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Kapitel 1
Ertrinken
Sie wachte auf. Blinzelte in die Finsternis. Atmete mit weit aufgerissenem
Mund durch die Nase. Blinzelte wieder. Spürte eine
Träne über ihre Wange laufen, spürte, wie sie das Salz alter Tränen
auflöste. In ihre Kehle rann kein Speichel mehr, ihre Mundhöhle
war trocken und wie erstarrt. Die Wangen wurden von
dem inneren Druck fest nach außen gewölbt. Der Fremdkörper
in ihrem Mund schien ihren Kopf sprengen zu wollen. Was war
das? Was war das bloß? Sie wäre nach dem Aufwachen am liebsten
gleich wieder in der dunklen, warmen Tiefe versunken, die
sie im Schlaf umgeben hatte. Die Spritze, die er ihr gegeben hatte,
wirkte noch immer, aber sie spürte, dass die Schmerzen im Anmarsch
waren. Spürte das an den langsamen, dumpfen Schlägen
ihres Pulses und an der ruckweisen Bewegung des Blutes in ihrem
Gehirn. Wo war er? Stand er direkt hinter ihr? Sie hielt den Atem
an und lauschte. Es war nichts zu hören, aber sie spürte seine Anwesenheit.
Leopard. Warum dachte sie an einen Leoparden?
Weil sie gelesen hatte, dass nur diese Großkatze nachts jagte? Der
Leopard schleicht sich im Dunkeln an seine Beute an und bringt
seinen Atem in Gleichklang mit deinem. Hält den Atem an, wenn
du den Atem anhältst. So kann er ganz dicht hinter dir stehen,
ohne dass du seine Anwesenheit bemerkst. Sie bildete sich ein,
seine Körperwärme zu spüren. Worauf wartete er? Sie begann
wieder zu atmen. Und meinte, im selben Augenblick den Atem
eines anderen in ihrem Nacken zu spüren. Sie wirbelte herum
und schleuderte ihren Arm nach hinten, traf aber nur Luft. Dann
kauerte sie sich zusammen und versuchte sich klein zu machen,
sich zu verstecken. Es war sinnlos.
Wie lange war sie betäubt gewesen?
Die Betäubung versagte einen Augenblick. Für den Bruchteil
einer Sekunde. Lange genug, um ihr einen Vorgeschmack zu geben.
Auf das Versprochene. Das, was kommen würde.
Der Fremdkörper, der vor ihr auf dem Tisch lag, hatte die Größe
einer Billardkugel, war aus glänzendem Metall mit kleinen, ausgestanzten
Löchern, Figuren und Zeichen. Aus einem Loch
ragte ein roter Draht mit einer Schlinge hervor. Sie musste
unwillkürlich an den Weihnachtsbaum denken, der in sieben Tagen,
am Abend vor dem Heiligen Abend, bei ihren Eltern geschmückt
werden würde. Mit glänzenden Kugeln, Weihnachtsmännern,
Körbchen, Kerzen und norwegischen Flaggen. In acht
Tagen wollte sie Weihnachtslieder singen und in die strahlenden
Augen ihrer Nichten sehen, wenn diese die Geschenke auspackten,
die sie für sie besorgt hatte. Was sie nicht alles anders machen
würde! So viele Tage, die sie intensiver leben würde! Wahrhaftiger,
erfüllt von Freude, Leben und Liebe. Sie dachte an all
die Orte, an denen sie nur vorbeigekommen war, die sie noch sehen
wollte. An die Männer, die sie getroffen hatte, und an den
einen, dem sie noch nicht begegnet war. An den Embryo, von
dem sie sich im Alter von siebzehn Jahren getrennt hatte, und an
ihre noch ungeborenen Kinder. An all die Tage, die sie in dem
Glauben vergeudet hatte, noch so viele vor sich zu haben.
Dann konnte sie plötzlich nur noch an das Messer denken, das
ihr an die Kehle gehalten wurde. Und an die sanfte Stimme, die
sie aufforderte, die Kugel in den Mund zu nehmen. Sie hatte es
getan, natürlich hatte sie es getan. Mit hämmerndem Herzen
hatte sie den Mund so weit aufgerissen wie nur möglich und
die Kugel hineingeschoben, bis nur noch der Draht heraushing.
Das Metall hatte salzig und bitter geschmeckt wie Tränen. Danach
hatte er ihren Kopf nach hinten gezwungen, und die Stahlklinge
des Messers brannte auf ihrer Haut, als er sie mit der flach
en Seite an ihren Hals drückte. Die Decke des Raums wurde
von einer Lampe erhellt, die in einer Ecke an der Wand lehnte.
Grauer, nackter Beton. Außer der Lampe gab es nur einen weißen
Campingtisch, zwei Stühle, zwei leere Bierflaschen und zwei Menschen. Ihn und sie.
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Sie hatte den Geruch seiner Lederhandschuhe
wahrgenommen, als er mit dem Zeigefinger leicht an der
roten Drahtschlinge gezogen hatte, die aus ihrem Mund hing.
Und im nächsten Augenblick war es, als explodierte ihr Kopf.
Die Kugel hatte sich ausgedehnt und drückte nun gegen die
Innenseite ihrer Mundhöhle. Egal wie weit sie die Kiefer öffnete,
der Druck blieb konstant. Er hatte ihren aufgerissenen Mund
konzentriert und mit sichtlichem Interesse untersucht, wie ein
Zahnarzt den Sitz einer Klammer kontrolliert. Der Anflug eines
Lächelns hatte seine Zufriedenheit signalisiert.
Mit ihrer Zunge spürte sie den Noppen nach, die aus der Kugel
herausragten und sich gegen ihren Gaumen pressten, gegen
das weiche Fleisch unter ihrer Zunge, gegen die Innenseite ihrer
Zähne und gegen ihr Zäpfchen. Sie hatte versucht zu sprechen,
und er hatte aufmerksam den unartikulierten Lauten gelauscht,
die aus ihrem Mund gedrungen waren, genickt, als sie es schließlich
resigniert aufgab, und eine Spritze hervorgeholt. Der Tropfen
an der Nadelspitze hatte im Licht der Taschenlampe geglitzert,
als er ihr ins Ohr flüsterte:
»Rühr den Draht nicht an.«
Wenige Sekunden nachdem er ihr die Spritze in den Hals gesetzt hatte, war sie ohnmächtig geworden.
Sie lauschte ihrem eigenen panischen Atem und starrte in die
Dunkelheit.
Sie musste etwas tun.
Sie presste die Handflächen auf den Sitz des Stuhls, der von
ihrem Schweiß ganz klamm war, und stand auf. Niemand hinderte
sie daran.
Langsam und mit kurzen Schritten ging sie bis zur Wand und
tastete sich daran entlang, bis sie eine kalte, glatte Fläche unter
ihren Fingern spürte. Die Metalltür. Sie packte den Riegel und
ruckte daran, aber er bewegte sich nicht. Verschlossen. Natürlich
war die Tür verschlossen, was hatte sie denn gedacht? Hörte
sie wirklich ein Lachen, oder war das Geräusch in ihrem eigenen
Kopf? Wo war er? Warum spielte er auf diese Weise mit ihr?
Sie musste etwas tun. Denken. Aber um richtig nachdenken
zu können, musste sie diese Metallkugel loswerden. Die Schmerzen trieben sie bald in den Wahnsinn. Sie schob Daumen und
Zeigefinger auf beiden Seiten in die Mundwinkel. Spürte die
Noppen. Versuchte vergeblich, ihre Finger unter eine davon zu
schieben. Sie musste husten und stellte panisch fest, dass sie
keine Luft mehr bekam. Die Noppen hatten die Schleimhaut am
Eingang ihrer Luftröhre stark gereizt, das Gewebe war angeschwollen,
und sie lief Gefahr zu ersticken. Sie trat gegen die Metalltür
und versuchte zu schreien, aber die Kugel erstickte alle
Laute. Sie gab wieder auf. Lehnte sich gegen die Wand und
lauschte. Hörte sie vorsichtige Schritte? Bewegte er sich durch
den Raum? Spielte er Blindekuh mit ihr? Oder war es nur das
Blut, das in ihren Ohren rauschte? Sie bereitete sich auf die
Schmerzen vor und presste die Kiefer zusammen. Es gelang ihr
aber nur kurz, die Noppen wieder zurück in die Kugel zu schieben,
bevor sie ihren Mund erneut aufspannten.
Etwas tun. Denken.
Federn. Die Noppen waren gefedert.
Sie waren zum Einsatz gekommen, als er an dem Draht gezogen
hatte.
»Rühr den Draht nicht an«, hatte er gesagt.
Warum nicht? Was würde geschehen?
Sie glitt an der Wand hinunter auf den Boden. Feuchte Kälte
stieg von dem Beton auf. Sie wollte wieder schreien, schaffte es
aber nicht. Stille. Schweigen.
All die Worte, die sie an die von ihr geliebten Menschen hätte
richten sollen, statt sich schweigend mit Leuten zu umgeben, die
ihr egal waren.
Es gab keinen Ausweg. Nur sie und diesen wahnsinnigen
Schmerz, ihr Kopf, der zu zerspringen drohte.
»Rühr den Draht nicht an.«
Wenn sie daran zog, würden die Noppen vielleicht zurück in
die Kugel springen und sie von ihren Schmerzen befreien.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wie lange war sie schon
hier? Zwei Stunden? Acht? Zwanzig Minuten?
Wenn es so einfach war und sie wirklich nur an diesem Draht
ziehen musste, warum hatte sie es dann nicht längst getan? Wegen
der Warnung eines ganz offensichtlich kranken Mannes?
Oder war das Teil des Spiels? Sollte sie dazu verleitet werden,
diesen vollkommen unnötigen Schmerz zu ertragen? Oder zielte
das Spiel darauf ab, dass sie sich der Warnung widersetzte und
am Draht zog, so dass… so dass etwas ganz Furchtbares geschah?
Was sollte denn geschehen? Was war das für eine Kugel?
Es war ein Spiel, da war sie sich sicher, ein grausames Spiel.
Denn ihr blieb keine Wahl. Die Schmerzen waren unerträglich,
ihr Hals schwoll an, und bald würde sie ersticken.
Noch einmal versuchte sie zu schreien, aber es wurde nur ein
Schluchzen daraus, und sie blinzelte und blinzelte, hatte aber
keine Tränen mehr.
Ihre Finger fanden den Draht auf ihren Lippen. Sie zog vorsichtig
daran, bis er sich straffte.
Sie bedauerte, so viele Dinge nicht getan zu haben, keine
Frage. Aber wenn ein Leben voller Entsagungen an einen anderen
Ort als diesen führte, würde sie sich ohne Zögern für ein solches
entscheiden. Sie wollte einfach nur leben. Egal, was für ein
Leben. So einfach war das.
Sie zog den Draht heraus.
Die Nadeln schossen aus den Spitzen der Noppen. Sie waren sieben
Zentimeter lang. Vier bohrten sich auf beiden Seiten durch
die Wangen, drei in die Nebenhöhlen, zwei in den Nasengang
und zwei weitere durch das Kinn nach außen. Eine Nadel durchbohrte
die Speiseröhre und eine weitere den rechten Augapfel.
Zwei Nadeln stießen durch den hinteren Teil des Gaumens in
das Gehirn. Aber das war nicht die Ursache ihres Todes. Wegen
der Metallkugel, die den Mund blockierte, gelang es ihr nicht,
das Blut auszuspucken, das aus den Wunden in ihren Rachen
strömte. Stattdessen lief es in die Luftröhre und von dort weiter
in die Lunge, wo es dafür sorgte, dass kein Sauerstoff mehr ins
Blut aufgenommen werden konnte. Das wiederum führte zu
einem Herzstillstand und das zu dem, was der Gerichtsmediziner
in seinem Bericht als zerebrale Hypoxie bezeichnete, also
Sauerstoffmangel im Gehirn. Mit anderen Worten: Borgny
Stem-Myhre ertrank.
Danke an den Ullstein Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |