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Rund 120 Autoren und Autorinnen aus Skandinavien sowie Finnland und
Island sind momentan auf dem deutschen Markt mit Krimis präsent,
davon schätzungsweise 40 allein aus Schweden. Keine Frage, die
Krimiwelle aus dem Norden, die in den letzten Jahren über Deutschland
geschwappt ist, hat deutlich Spuren hinterlassen. Doch zeigen sich erste
Ermüdungserscheinungen. Für Willy Josefsson beispielsweise,
so die Literaturagentin Gudrun Hebel aus Berlin, fände sich kein
deutscher Verlag mehr. Ebbt die Krimiwelle aus Skandinavien also langsam
ab? Möglich. Im Wirtschaftsjargon spricht man in solch einem Fall
wohl von einem "gesättigten" Markt, der nun in eine "Konsolidierungsphase"
tritt, was nichts anderes hieße, als dass in ein paar Jahren die
Quantität der Autoren auf dem deutschen Markt aus Skandinavien
geringer, die Qualität jedoch erwartungsgemäß höher
sein müsse - oder überleben gerade nur die Mainstream-Autoren
und nicht die Autoren, die sich jenseits des Hauptstroms bewegen? Was
überhaupt ist der Mainstream der skandinavischen Krimilandschaft?
Die heutigen Autoren teilen mit Sjöwall/Wahlöö nicht
nur den gesellschaftskritischen Anspruch, sondern mit Ausnahme von Liza
Marklunds Journalistenkrimi handelt es sich bei den Werken der o.g.
Autoren allesamt um Polizeiromane, dem gegenwärtig vorherrschenden
Subgenre.
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Damit hat der schwedische Krimi eine Internationalisierung
erlebt, der ihn auch für deutsche Leser interessant macht.2
Hier sind Autoren, hier sind Kommissare und Kommissarinnen, die uns
verstehen, die unsere Sprache sprechen, die versuchen, die Auswirkungen
der Globalisierung, die im schwedischen Skåne ebenso spürbar
sind wie in der bundesrepublikanischen Gegenwart, zu beschreiben und
verstehbar zu machen. Skandinavische Krimis der Couleur eines Mankell
thematisieren somit die komplexe gesellschaftliche Struktur der Gegenwart
und artikulieren Ängste, Empfindungen und Wahrnehmungen angesichts
der sich rasant verändernden Gegenwart.
Doch auch Autoren wie Olov Svedelid oder Arne Dahl lassen ihre Protagonisten
in einem afrikanischen Gefängnis landen oder schicken sie zur Überführung
eines Serienkillers in die USA. Während bei Svedelid noch mehr
die Action und der Thriller im Stile eines John LeCarré oder
John Grisham im Vordergrund stehen als beispielsweise bei Mankell, kommt
zwar auch bei Arne Dahl die Action nicht zu kurz, doch sind psychologische
Zusammenhänge und Prädispositionen für diesen Autor mindestens
ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger. Damit markiert Svedelid mit Jan
Guillou das eine Ende des schwedischen Polizei- und Agententhrillers
mit viel Action und Dahl das andere, wo psychologische sowie literarische
Muster und Motive für eine Tat eine zentrale Rolle spielen. In
deren Mitte lassen sich Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell oder
Åke Edwardson positionieren, die ebenfalls alle nicht mit Action
und Handlung geizen, jedoch auch - unterschiedlich stark ausgeprägt
und in unterschiedlicher Qualität - das psychologische Moment berücksichtigen.
Zu nennen ist auch Kjell Eriksson, der den schwedischen Polizeiroman
um eine Kommissarin, Ann Lindell, bereichert hat und glaubwürdig
aus der Frauenperspektive erzählt. Doch unterscheidet sich Kjell
Eriksson nicht nur durch seine Wahl für eine Kommissarin. Auch
sein Sprachduktus ist ein gänzlich anderer. Während Mankell,
Marklund & Co. ihre Leser schon mal durchaus in einem - wenngleich
spannenden und mitreißenden - Parforceritt durch den Krimi jagen,
zeichnet sich Eriksson durch stille Momente und poetische Augenblicke
aus - Auch das ist schwedischer Krimi anno 2004!
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Liza Marklunds Journalistin Annika Bengtzon ist nicht
die einzige Reporterin, die auf Verbrechensjagd geht. Das Autorinnentrio
Emma Vall (drei Journalistinnen) hat mit der Figur der Amanda Rönn
ebenfalls eine Journalistin ins Krimirennen geschickt, und in diesem
Frühsommer debütiert in Deutschland mit Mari Jungstedt eine
weitere Journalistin als Krimischriftstellerin - man darf gespannt sein!
Liza Marklund schreibt im flotten Magazinstil. Ihre Sprache kommt wie
die ihrer Kollegen Mankell und Edwardson (ebenfalls ehemaliger Journalist)
schnell auf den Punkt, ist journalistisch geprägt, kurz, knapp
und prägnant. Dazu zeichnen sich die Romane durch schnelle Szenenwechsel
und schnelle Schnitte, ähnlich der Filmtechnik, aus.3
Das macht sie modern und verleiht ihnen zusätzlich Dynamik.
Die Kulturjournalistinnen Emma Vall erlauben sich zwar einen etwas langsameren
Sprachstil, doch teilen sie mit ihrer Kollegin Liza Marklund neben einer
Journalistin als Protagonistin den gesellschaftskritischen Anspruch,
der bei allen vier Autorinnen so explizit zum Ausdruck kommt, dass er
auch dem unbedarftesten Leser ins Auge springen dürfte.
Diese in aller Deutlichkeit vorgetragene gesellschaftspolitische Position
sowie eine Sprache, die leicht verständlich und damit gut und schnell
in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit lesbar ist - man beachte die im
Haltestellentakt konsumierbaren Kapitel -, hat sicherlich neben der
oben beschriebenen Internationalisierung des schwedischen Krimis zu
seinem rasanten Siegeszug in Deutschland beigetragen.
Es mag für deutsche Frauen aber auch besonders attraktiv sein, vom schwedischen (skandinavischen) Gleichheitsmodell zu lesen, denn die skandinavische Gesellschaft hat es wie keine andere europäische geschafft, Frauen Berufstätigkeit und Mutterschaft zu ermöglichen. "Schweden liegt mit seinen weiblichen Krimihelden weit vorne. Es ist utopisch zu denken, dass eine deutsche Mutter zweier Kinder auch weiterhin berufstätig ist, wie Annika Bengtzon in Liza Marklunds Romanen", so die Berliner Literaturagentin Gudrun Hebel. Auch die Finnin Leena Lehtolainen bedient mit ihrer Protagonistin Maria Kallio den "feministischen", den "Frauenkrimi", und die Dänin Gretelise Holm wurde sogar von ihrem Verlag dazu aufgefordert, einen "Frauenkrimi", "einen Krimi und einen sozialkritischen Gegenwartsroman" zu schreiben.4 Der Erfolg scheint ihr und dem Verlag Recht zu geben. Auch Emma Vall bedienen dieses Marktsegment: "Wir schreiben feministische Nach-dem-Volksheim-Krimis", so die Autorinnen selbst. Denkwürdig: Kjell Eriksson mit seiner allein erziehende Kommissarin Ann Lindell entpuppt sich damit auch in dieser Hinsicht als Grenzgänger und lehrt uns in Katalogisierungen denkenden Deutschen, dass feministische oder Frauenkrimis nicht unbedingt von Frauen geschrieben sein müssen und Schubladendenken eigentlich eh obsolet sein sollte.
Doch eine letzte, kleine, aber feine Schublade soll noch aufgemacht
werden. Hier finden sich Autorinnen wie die Norwegerin Karin Fossum sowie
die Schwedinnen Karin Alvtegen und Liselott Willén. Bemerkenswert
an diesen Autorinnen ist, dass ihre Romane vielmehr psychologischen Charakterstudien5
gleichen, und das psychologische Moment zugleich Ausgangspunkt für
die Story ist. Insbesondere Liselott Willén überschreitet
mit ihrem Debütroman "Stein um Stein" raffiniert die Genreregeln
und lässt "Stein um Stein" genau dort enden, wo andere
Krimis eigentlich erst anfangen - wenn sie nicht gleich ganz einen moralischen
(Selbst-)Mord begeht.
Auch Karin Alvtegen verweigert sich mit ihren bisher drei Romanen "Schuld",
"Die Flüchtige" und "Der Seitensprung" insofern
den Regeln, als sie weder einen Kommissar, noch einen Privatdetektiv oder
eine Journalistin zum Hauptcharakter macht noch überhaupt einen konstanten
Protagonisten schafft und den "Seitensprung" ähnlich Liselott
Willéns "Stein um Stein" dort beendet, wo ein Kommissar
überhaupt erst auf den Plan treten könnte. Das Ende gerade dieses
Romans gestaltet Karin Alvtegen dabei so leise und perfide, dass kein
noch so actionreicher und grausamer Mankell oder Edwardson damit mithalten
kann, doch hält ihre Personenzeichnung - im Vergleich zu Karin Fossum
etwa - einem langsamen und reflektierenden Lesen nicht immer Stand.
Karin Fossum kann damit als unangefochtene Meisterin der psychologischen
Charakterstudie auf engstem Raum und in der Beschreibung von Außenseitern,
Tätern, Opfern und ihrem Beziehungsgeflecht untereinander gelten.
Bei ihr bleibt immer ein "ungeklärter Rest" zurück,
der den Leser zwingt, die gerade scheinbar so logisch und eindeutig erbrachte
Klärung des Falls durch Kommissar Sejer zu hinterfragen und nach
Handlungsalternativen des Individuums zu suchen. Sie entschuldigt Täter
nicht einfach damit, selbst Opfer zu sein, sondern verweist leise immer
wieder auf die Eigenverantwortlichkeit eines jeden Menschen. Kommissar
Sejer hält sich dabei stets denkbar leise im Hintergrund und überlässt
die Szene Tätern und Opfern, was diese Romane unter den Polizeiromanen
deutlich heraushebt.
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Diese Vielfalt und das Facettenreichtum der schwedischen
und skandinavischen Krimilandschaft macht es sicherlich möglich,
dass jeder Krimifan nach seinem Geschmack fündig werden kann. Facettenreichtum
und Vielfalt zeugen sicher auch von einem hohen Qualitätsbewusstsein
der Autoren, doch ist das keine hinreichende Erklärung dafür,
warum die Autoren und Autorinnen aus dem Norden Europas in Deutschland
so große Erfolge feiern, denn ihre Romane erscheinen auch in anderen
europäischen Ländern, doch scheinen die Erfolge auf dem deutschen
Markt alle anderen zu übertreffen.
Sind angelsächsische, deutsche oder französische Krimis so
viel schlechter als die skandinavischen? Sicher nicht, doch scheint
das Bedürfnis nach Orientierung, nach Antworten und Lösungsvorschlägen
auf die globalisierte Gegenwart zurzeit besonders ausgeprägt zu
sein, und die Skandinavier bieten wie oben beschrieben momentan die
politischsten Krimis. Und bei aller Kritik: Diese sind politisch korrekt.
Gesellschaft, Staat und Regierung zu kritisieren, Rassismus und Wirtschaftskriminalität
zu kritisieren, ist in hohem Maße politisch korrekt. Mehr noch:
Die politische und gesellschaftliche Kritik wie sie in den skandinavischen
Krimis vorgetragen wird, bewegt sich innerhalb gesellschaftlich etablierter
Konventionen. Ebendiese haben Sjöwall/Wahlöö ja seinerzeit
begründet. Darum hat Mankell auch nicht den Krimi revolutioniert
oder Innovatives hervorgebracht. Der Weg war ja vielmehr durch Sjöwall/Wahlöö
bereits geebnet. Mankell und andere Epigonen Sjöwall/Wahlöös
haben dieses Feld "lediglich" neu, d.h. zeitgemäß,
bestellt.
Damit treffen sie offensichtlich den Nerv einer ganzen Generation einer
Bundesrepublik Deutschland, die gegenüber dem großen Verbündeten
und - politischen, kulturellen
- Vorbild USA zunehmend selbstbewusster
und emanzipierter agiert. Die Alt-68er und die "Lieber Petting
statt Pershing"-Generation ist in der Gesellschaft, ist im Establishment
angekommen, und das nicht nur im politischen Bereich.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine zu starke Orientierung
an "Deutschem" nach wie vor tabuisiert ist, ebenso wie eine
kritischere Distanz zu den USA und ihren Wertvorstellungen zunehmend
stärker artikuliert wird. Das heißt, es ist nicht mehr möglich,
sich vorbehaltlos am American Way of Life zu orientieren. Und damit
befinden wir uns in einem Dilemma: An "Deutschem" mögen
wir uns immer noch nicht so recht als "Leitbild" orientieren,
am American Way of Life aber auch nicht mehr. Auch bietet ja die angelsächsische
Krimiliteratur bei weitem nicht den Grad an Politisierung wie die skandinavische
- und Michael Moore schreibt nun mal keine Krimis! Damit bleiben die
Skandinavier de facto die einzige Alternative für viele der heutigen
30 - 50jährigen, sich politisch korrekt und ruhigen Gewissens kritischer
Gegenwartsliteratur zuzuwenden und ihr - wenn auch nicht explizit gedacht
oder ausgesprochen - eine Leitbildfunktion zuzusprechen.
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1 | Tobias Gohlis, Das Böse kommt von Norden. Die Welt des nordischen Krimiromans. Zsolany Verlag, 2003/2004. |
2 | Vgl. Lars Wendelius. Rationalitet och kaos. Nedslag i svensk kriminalfiktion efter 1965. Gidlunds förlag, 1999. |
3 | Vgl. Lars Wendelius. Rationalitet och kaos. Nedslag i svensk kriminalfiktion efter 1965. Gidlunds förlag, 1999. |
4 | Katharina Granzin, Verbrechen und andere Zustande, taz 23.04.2004, www.taz.de |
5 | Tobias Gohlis, Das Böse kommt von Norden. Die Welt des nordischen Krimiromans. Zsolany Verlag, 2003/2004. |
6 | Tobias Gohlis, Das Böse kommt von Norden. Die Welt des nordischen Krimiromans. Zsolany Verlag, 2003/2004. |
7 | Magnus Persson, Deckarvågen - Ett svar på postmoderna frågor. Svenska Dagbladet 10/2 2004, www.svd.de |
Aber Moment, was heißt hier "kritische Gegenwartsliteratur"
und "Leitbildfunktion"? Hat die zeitgenössische Literatur
keine Antworten auf die drängenden Fragen der Menschen mehr zu geben?
Stellen wir die Frage anders: Was hat das deutsche Feuilleton in den letzten
Jahren nachhaltig aufgeregt? Da fallen einem sofort die Romane "Im
Krebsgang" von Günter Grass und "Tod eines Kritikers"
von Martin Walser ein - beide Jahrgang 1927! Günter Grass' Roman
"Im Krebsgang" ist sicherlich ein wichtiges Werk, aber einmal
mehr geht es um die Vergangenheit und damit nur bedingt auch um Gegenwart
und Zukunft.
Und was machen die jüngeren Autoren? Sie beglücken uns mit Werken
wie "Generation Golf" und "Generation Golf 2" von
Florian Illies. Das ist nicht wirklich politisch und greift auch nicht
die drängenden Fragen der Zeit auf, wie es die Skandinavier in ihren
Krimis tun. Auch Autorinnen wie Claudia Rusch ("Meine Freie Deutsche
Jugend"), Jana Hensel ("Zonenkinder") oder Katja Oskamp
("Halbschwimmer") sowie ihre westdeutschen Pendants Gerhard
Henschel und Marcus Jensen (Kindheitsroman bzw. Oberland) machen es sich
mit ihren Werken in der allgemeinen (N)Ostalgie-Kuschelecke bequem, und
alle Thirty-Somethings der wiedervereinigten BRD dürfen jetzt in
Kindheitserinnerungen schwelgen. Das ist nett. Das ist schön. Aber
Werke wie diese geben damit noch lange keine Antworten und Orientierungen
für das Hier und Jetzt. Sie stellen noch nicht einmal die richtigen
Fragen auf das Hier und Jetzt.
Damit bleiben die Krimis des Nordens Europas "die einzige Form von
Literatur (
), in der noch moralische Fragen behandelt werden können
(
)"6, die einzige literarische Gattung, die mit ihren Gestaltungsformen
die enorme Komplexität der postmodernen, globalisierten Gesellschaft
sowie ihre undurchschaubaren Machtstrukturen noch etwas sichtbar und begreifbar
machen kann.7