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Håkan
Nessers neuestes Buch
"Die Schatten und der Regen"
Fotocollage: Sebastian Bielke/ n:da |
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Viktor Vinblad ist schwer zu verstehen. Nicht nur, weil er Psalme rückwärts
singt. Hinzu kommt, dass sein Vater seine Mutter erschlagen hat und sich später
im Gefängnis erhängt. Mit 15 will Viktor das Fermat-Rätsel lösen,
doch stürzt er im entscheidenden Augenblick unglücklicherweise aus
dem dritten Stockwerk seiner Schule. Viktor verliert dabei zwar nicht sein Leben,
aber seine Sprache. Fortan schweigt er. Als Sara Psalmodin aus dem Rossvagga-Kollektiv
ermordet wird, verschwindet Viktor spurlos für die nächsten 30 Jahre.
Doch dann verbreitet sich das Gerücht, dass er, der "Mörderjunge",
wieder zurückgekehrt sei. Ein Gerücht, das David Mörtberg - nach
dem Mord an Viktors Mutter dessen Stiefbruder - zwingt, in die Stadt seiner
Kindheit zurückzukehren und mit der alten Geschichte endlich abzuschließen.
Intertextualität und ein Spiel mit dem Genre
In K.-, einer Stadt nordwärts von Uppsala, lässt Håkan Nesser
zunächst seinen Protagonisten David Mörtberg reisen bzw. zurückkehren,
damit dieser seine Kindheitserinnerungen und seine Version des Mordes an Sara
schildern kann. Der Stiefbruder des "Mörderjungen" trifft in
K.- als Erstes auf einen alten Bekannten: Barin. Oder besser gesagt auf seine
Statue. Barin ist Nesser-Lesern bereits aus "Barins Dreieck" und
Schwedischkundigen darüber hinaus aus seinem Briefroman "Kära
Agnes" bekannt. Doch es sind nicht nur solch intertextuelle Verweise,
die wie ein Gruß des Autors an seine treuen Leser wirken und auf Nessers
mehr als zehnjährige Autorschaft verweisen. Mit "Die Schatten und
der Regen" hat Håkan Nesser auch ein weiteres Mal einen Roman geschrieben,
der Kriminalgeschichte und Entwicklungsroman in einem ist - und noch etwas
Drittes, Neues. Dabei schafft er es, sowohl das Thema vom Erwachsenwerden
als auch das Genre Krimi erneut zu variieren.
Ohne Verankerung in Zeit und Raum keine Existenz
Zwar kehrt Nesser hier nicht wie in den beiden Närkeromanen "Kim
Novak badetet nie im See von Genezareth" und "Und Piccadilly Circus
liegt nicht in Kumla" in seine eigene Kindheitslandschaft Närke
zurück, doch ist "Die Schatten und der Regen" ein genuin und
intensiver Nesser-Roman, dessen Charaktere und Landschaften wir sofort wieder
erkennen. Denn auch David ist einer von diesen Männern mittleren Alters,
die plötzlich durch einen Anruf oder einen Brief in die - seelische,
moralische und geografische - Landschaft ihrer Kindheit zurückgeholt
werden, um mit der Vergangenheit ins Reine zukommen. Diese narrative Figur
der Närkeromane bildet auch hier den Ausgangspunkt. Denn alles muss einen
Anfang, einen Startpunkt, haben und einem festen Ort in Zeit und Raum zugeordnet
werden können, wie es an einer Stelle im Roman heißt. Von dort,
von diesem geografischen wie existentiell notwendigen Startpunkt aus, entwickelt
Nesser dann seine fein beobachtete Schilderung von Menschen, die im Leben
havariert sind. Als David von zu Hause aufbricht, um nach Viktor zu suchen,
ist seine Ehe gescheitert. Ebenso die Ehe von Maria, seiner Schwester. Viktor
ist eine Insel, doch gibt es keinen Hafen, um an Land zu gehen. Er ist der
stumme Flüchtling, der in seine Vergangenheit zurückkehrt, um seine
Aufgabe zu erfüllen.
Seelenlose Landschaften - Trostlose Seelenlandschaften
Die karge, nordische - norrländische? - Landschaft wird so zum Symbol
der trostlosen Seelenlandschaft der drei Protagonisten, aus deren Perspektive
abwechselnd erzählt wird. New York, die Millionenstadt, ist der Ort der
größten Einsamkeit - nirgendwo sonst ist die Physis der Einsamkeit
so stark spürbar wie in New York -, und gleichzeitig ist New York die
Stadt der Engel aus Fleisch und Blut, die Viktor immer wieder das Leben retten
und seine Sprache wieder finden lassen.
Während des Erzählens wechseln nicht nur die Ich-Erzähler
- David, Viktor und Maria - und damit verbunden die subjektiven Perspektiven,
sondern auch die zeitlichen. Das Vergangene wird mit dem leicht melancholisch-nostalgischem
Blick der Närkeromane erzählt und mit der desillusionierten Perspektive
der Gegenwart verquickt. Die Antwort auf unsere Existenz in der Gegenwart
liegt in der Vergangenheit, und Zukunft ist nicht lebbar, nicht gestaltbar,
ohne mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Das tritt mit deutlicher
Steigerung von Ich-Erzähler zu Ich-Erzähler zutage. Somit liegt
auch die Antwort auf die Frage nach dem wahren Mörder Saras in der Biographie
eines der drei Ich-Erzähler wie in einer Kapsel eingeschweißt.
Existentiell und ambivalent
Dabei schlägt Nesser seinen typisch intellektuell-kühlen, aufs
Existentielle reduzierten Ton an. Trocken, aber nicht traurig. Räsonierend
und mit einem einfachen "aber" einleitend, ambivalent und das gerade
Gesagte in Frage stellend. Doch nicht ohne Einfühlungsvermögen und
nicht das Leben grundsätzlich negierend. Im Gegenteil. Manchmal nur liegen
die Gefühle sehr tief verborgen. Und so kriecht Håkan Nesser seinen
Figuren hier geradezu unter die Haut und lässt sie ihr Mordrätsel
selbst lösen. Weder ist das Ende dabei bekannt skandinavisch-düster
noch gibt es ein Happy End à la Hollywood, aber Hoffnung, die gibt
es bei allem Pessimismus.
Die Dekonstruktion des Kommissars
Einen Kommissar, der von außen die Puzzlestücke zusammensetzt
und Handlungen, Motive und Ereignisse rekonstruiert, brauchen diese Charaktere
nicht mehr. David, Viktor und Maria sind in diesem Sinne autark und eine übergeordnete,
richtende, weltliche Gewalt ist damit obsolet geworden. So gibt es mit Kommissar
Malander nur noch an der Peripherie einen Vertreter der staatlichen Macht.
Ohne dass einer der drei das Geheimnis um Sara Psalmodins Mord löst,
ist dieser jedoch zum Scheitern verurteilt. Mehr als je zuvor haben es damit
die Protagonisten selbst in der Hand, die Kriminalgeschichte zu Ende zu führen.
Der Kommissar wird dekonstruiert. Damit ist "Die Schatten und der Regen"
vielmehr als ein Krimi. "Der Schatten und der Regen" führt
die neuen Wege, die Håkan Nesser in den Närkeromanen und "Barins
Dreieck" beschritt, noch konsequenter fort und verbindet damit das Beste
aus beiden Romanwelten: das Nostalgisch-Melancholische aus den Närkeromanen
und das Gespür für verwickelte Intrigen aus Van Veeterens Welt.
Es ist erstaunlich, wie es Håkan Nesser dabei auch nach seinem siebzehnten
Buch noch vermag, dem Genre neues Leben einzuhauchen. Mit "Die Schatten
und der Regen" erschließt er dem Genre Kriminalroman nicht weniger
als neue Perspektiven und Stilformen, die über es selbst hinausweisen.
Nach diesem Roman ist alles möglich.