Knut Moen richtete sich mit einem Ruck in seiner Schlafkoje
auf. Es kribbelte in den Fingerspitzen. Er versuchte, den Körper
unter Kontrolle zu bekommen, doch die Angst saß überall,
vom Haaransatz bis in die Zehen. Es war derselbe Albtraum.
Im Traum kam ein Mann mit erhobenem Messer auf ihn zu, und wie immer wachte Moen starr vor Schreck auf, kurz bevor
das Messer eindrang. Er langte nach den Streichhölzern
und entzündete den Kerzenstumpf auf dem Nachttisch. Der
Wecker zeigte halb vier. Es war kalt im Raum, doch sein wollenes
Unterhemd war schweißdurchtränkt. Er stand auf und
machte Feuer in dem alten Holzofen.
Als es halb sechs geworden war, saß er am offenen Fenster
und schaute über die Almwiese. Der Vollmond hing über dem
Waldrand und beleuchtete ein Reh mit zwei halbgroßen Kitzen.
Er griff nach seinem Gewehr, legte gegen den Fensterrahmen
gestützt an und bekam die Ricke ins Fadenkreuz. Lange
saß er so da, bevor er abdrückte. Es machte klick. Das Reh hob
den Kopf und nahm Witterung auf. Im nächsten Augenblick
waren die drei Tiere verschwunden. Er lächelte. Es war der
erste Tag der Herbstjagd, und er war bereit.
Im Haupthaus der Alm wurde das Licht angemacht. Dort oben
saß der Lensmann, ein alter Freund von der Polizeihochschule,
der die Jagdrechte im Grenzwald zwischen Romerike und
Toten innehatte. Moen zwängte sich in die grüne Militärjacke
und ging hinaus. Es war jetzt endgültig Herbst geworden.
Moens Atem ähnelte weißen Dunstschwaden, die aus seinem
Mund strömten, während er über die Almwiese und hinein in
die Küche lief. Der Lensmann war schon mit dem Frühstück
beschäftigt. Moen setzte sich und sah seinen Freund dankbar
an, als er ihm die erste Tasse Kaffee des Tages einschenkte.
Auf dem Fußboden der Küche lief der Elchhund im Kreis
herum. Er war bereit, er auch, doch sein Besitzer hatte es nicht
eilig.
Buchtipp |
 |
»Bloß keinen Stress heute! Du hast doch gestern schon gearbeitet «, sagte Asbjørn Gihle und setzte sich ebenfalls.
»Da
draußen steht ein Elch und wartet auf uns, so oder so.«
Moen nickte und studierte seinen Freund. Der dunkle Schopf
Gihles war seit ihrer letzten Begegnung grauer geworden, registrierte
er, doch die Haare waren dicht und fest wie zuvor.
Der Lensmann sah Moen prüfend an.
»Du bist wohl in Kristiansand gewesen, schätze ich mal«,
sagte der Mann aus Toten vorsichtig.
Moen nickte. Die Rede war von einem ungewöhnlich komplizierten
Kindermordfall, der sowohl die Polizeibeamten als
auch die Öffentlichkeit stark beschäftigt hatte.
»Ich sehe schon, darüber reden wir besser an einem anderen
Tag.« Gihle streckte die Hand aus.
»Gibst du mir eine Zigarette? «
»Hast du nicht aufgehört?«
»Doch, sicher, aber jetzt sind Ferien.«
Moen stand auf und ging zu seiner Feldjacke, die neben der
Küchentür an der Wand hing. Sie hörten das Geräusch eines
Autos, das schnell auf den Hof gefahren kam. Auf den letzten
Metern knirschte es im Kies und die Bremsen stotterten.
Moen und Gihle blickten sich an.
»Gib mir die Zigarette«, sagte Gihle und zündete sie an,
als draußen die Autotür zuknallte. Ein großer blonder Kerl
stürmte in die Küche und rannte Moen fast über den Haufen.
Der Elchhund spürte die Aufregung und sprang auf. Der
Mann blieb abrupt stehen, als Gihle knurrte:
»Das ist hoffentlich wichtig, Sørli.«
»Anne, meine Cousine, ist ermordet worden«, sagte der Mann
und schlug die Hände vors Gesicht. Dann ließ er die Arme
herabsinken und atmete langsam aus.
»Tut mir leid, Chef. Ich
soll Sie abholen. Die anderen sind schon am Tatort.«
»Und wo?«
»Sie war Nachtwache in Lundby.«
»Sie sollten sich einen Moment hinsetzen.« Gihle deutete auf
einen Stuhl.
»Das ist mein Mitarbeiter, Odd Sørli«, sagte er
zu Moen gewandt.
»Ich hab keine Ruhe, Asbjørn. Ich muss zurück. Kommen
Sie?«
»Fahren Sie, ich komme nach.«
Sørli verschwand auf demselben Weg wieder nach draußen.
Moen setzte sich und schaute zu Asbjørn Gihle hinüber, während
draußen auf dem Hof die Wagenräder im Kies durchdrehten.
Der Lensmann zerdrückte seine Zigarette.
»Das ist doch wirklich ausgemachte Scheiße. Ich hab das
Handy abgestellt, aber vergessen, mich zu verstecken.« Der
Lensmann stand auf und schwieg einen Moment. Er starrte
auf seine Hände, öffnete und schloss ein paarmal die Faust.
»Ich nehme an, ich kann dich nicht bitten, mitzukommen.«
Moen brachte ein vages Lächeln zustande. Er sah einen Mann,
der etwas anderes meinte, als er sagte, und er dachte an die
Lebensweisheit der Vorfahren: Man soll seinem Freund ein
Freund sein.
»Die Abteilung weiß, wo ich bin. Sie haben ohnehin kaum
Leute in Bereitschaft. Ich werde auf die Sache angesetzt, egal
wie du es auch drehst und wendest. Ich ruf an und melde mich
gleich.«
Asbjørn Gihle murmelte ein Dankeschön. Sein Blick war niedergeschlagen.
Er nahm die Jacke vom Haken und öffnete den
Mund, um etwas zu sagen. Dann schüttelte er den Kopf und
hielt Knut Moen die Küchentür auf.
Danke an den Rotbuch Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.