Leseprobe
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Die Straße, in der der Mord geschehen war, lag eingeklemmt
zwischen den Bahngleisen auf der einen Seite und dem lärmenden
Verkehr am Seineufer auf der anderen. Von der gegenüberliegenden
Seite des Flusses strömten über die Bercy-Brücke
und den Boulevard Vincent Auriol im rechten Winkel unablässig
Autos auf sie zu. Ein Artillerieangriff aus Verkehrslärm
rund um die Uhr.
Orla Os, Sonderermittlerin und Rechtsmedizinerin, hielt vor
der roten Ampel an der Brücke. Die Wagenfenster hatte sie
wegen des Lärms und der Abgase fest geschlossen. Eine Hitzewelle
hatte den ungewöhnlich kühlen Mai abgelöst und hing
wie ein schweres Joch über der Stadt, aber in ihrem nagelneuen
Peugeot war es kühl und angenehm.
»Rue Edmond Flamand.«
Sie deutete nach rechts:
»Wir biegen hier ab.«
Polizeiinspektor Hervé Marchal sah aus dem Seitenfenster.
Auf einem großen Wahlplakat ragte Jacques Chirac vor ihnen
auf, Seite an Seite mit Le Pen.
»Verdammt, da hängen sie alle
beide, wohlgenährt und proppenvoll mit ihren schönen Versprechungen.
Während ein Normalbürger wie ich zu einer Leiche
in einem heruntergekommenen Mietshaus unterwegs ist.
La France en grand«, las er halblaut und wandte Orla sein bärtiges
Gesicht zu. »Erklär mir doch mal, warum die Schlagzeilen
bei mir genauso viel Optimismus auslösen, wie die Hitze da
draußen Weihnachtsstimmung verbreitet?«
Es wurde Grün, und sie bogen in die Rue Edmond Flamand
ein.
»Du bist einfach gerade gar nicht mehr du selbst, Hervé. Es
ist Samstag, du hast zehn Tage ohne Unterbrechung geschuftet,
du hast dir keine Zeit fürs Mittagessen abknapsen können, und
draußen sind es fünfunddreißig Grad im Schatten. Wem sonst
als Chirac willst du das anlasten, dem du doch nie im Leben
deine Stimme geben würdest.«
In der Rue Edmond Flamand bot sich ihnen auf der einen
Seite ein trostloses Bild verwahrloster Häuserfassaden, auf der
anderen erhob sich die Spiegelfassade von France Télécom wie
ein futuristisches Monster.
»Vier Etagen mit Mansardenzimmern
«, sagte Orla, als sie sich an neugierigen Zuschauern und
Polizeiabsperrungen vorbeimanövriert und vor einem älteren
Gebäude geparkt hatten. »Die Fenster sehen aus, als würden
sie jeden Moment rausfallen. Die Rahmen sind verrottet.«
Marchal nickte. Er wartete an der Hoftür, während sie den
Koffer mit der Ausrüstung aus dem Kofferraum zog. Die Tür
kreischte, als er sie aufschob.
»Unverschlossen?«
Er nickte wieder. »Die lässt sich gar nicht abschließen.«
Uringestank schlug ihnen aus der Toreinfahrt entgegen.
»Ist das alles vergammelt«, murmelte Orla.
Sie überquerten einen kleinen gepflasterten Innenhof. Der
Haupteingang lag geradeaus, und links führte ein schmaler
Durchgang zur Hintertreppe. Um die Hintertreppe herum war
alles abgesperrt. Sie traten in den Durchgang und blieben stehen.
Der schmale Gang war von hohen Mauern begrenzt und endete
an der Hintertreppe. An einer Wand gärten vier Mülltonnen in
der Hitze. Dazwischen saß der Tote, nur mit einem ärmellosen
Unterhemd bekleidet.
Einer der Beamten am Tatort, ein kleiner, sehniger Mann in
den Sechzigern, kam auf Orla zu. »Führen Sie heute die Untersuchung
am Tatort durch?«
Sie nickte. Das Gefühl, gewogen und vermessen zu werden,
traf sie für den Bruchteil einer Sekunde wie ein lästiges kleines
Insekt. Sie schüttelte es ab.
»Sie können gerne anfangen«, sagte er. »Da, wo er sitzt, haben
wir unsere Untersuchungen abgeschlossen.«
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Sie blieb ein Stück vor der Absperrung stehen und betrachtete
den Toten. Er lehnte wie eine Stoffpuppe an der weißen
Wand, die Beine gespreizt auf dem grauen Zementboden, die
Arme hingen schlaff zur Seite, der Kopf war vornübergekippt.
Orla zog Plastiküberzüge über ihre Schuhe und stieg über die
Absperrung. Sie balancierte zwischen den Blutlachen und fand
eine Stelle, wo sie stehen und ihre Tasche abstellen konnte.
Orla zog Handschuhe an und holte das Diktiergerät hervor.
»Diktat Dr. Orla Os«, begann sie. »Datum: 6. Juni . . .« Sie
scheuchte ärgerlich die Fliegen weg, die schon um ihren Kopf
kreisten.
Marchal kam zusammen mit einem der Polizeibeamten zu
ihr herüber. »Orla, darf ich vorstellen, Nicolas Roland. Er ist
neu, letzten Monat aus Bordeaux gekommen. Er wird uns in
diesem Fall hier unterstützen.« Marchal nickte Orla zu. »Dr.
Os, Sonderermittlerin und Rechtsmedizinerin, der Mordkommission
zugeordnet.«
Der Mann ist viel zu jung, dachte sie. Und so ein ungeniert
neugieriger Blick. Schmale, hellblaue Augen, fast silberfarben,
die nicht auswichen. Orla errötete selten, aber jetzt war es so
weit. Ein Milchbart, der sie mit den Augen verschlang – das
hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie nickte kurz und konzentrierte
sich wieder auf den Tatort.
»Und?« Marchal beugte sich vor.
Sie murmelte, sie habe ja gerade erst angefangen.
Marchal blinzelte zum Ausgang hinüber. »Der Blutmenge
nach zu urteilen, wurde er offenbar da drüben getötet.«
»Du meinst, er wurde hierher getragen oder gezogen?«
»Zweifellos.« Er zeigte auf den Zementboden.
»Da sind die
Schleifspuren.«
Orla trat einen Schritt zurück.
»Ich möchte ihn in einer anderen
Position sehen.« Sie drehte sich zu Roland um.
»Kann
man ihn bewegen?« Roland nickte. Sie gab zwei Männern, die
neben ihnen standen, ein Zeichen.
»Natürlich will ich wissen, wie lange er schon tot ist«, be-
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gann Marchal, während die Leiche auf eine Bahre gelegt
wurde.
»Aber am allerliebsten möchte ich wissen, warum, wer
auch immer ihn getötet hat, sich die Mühe machte, ihn anschließend
hierherzubringen? Um ihn dann wie einen Wandschmuck
zwischen den Mülltonnen zu arrangieren. Verstehst
du, was das soll?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mit den Gesetzen der Logik werden
wir wohl auch hier nicht weiterkommen.« Sie beugte sich
über den Mann.
»Es ist gut möglich, dass er nicht genau an
dieser Stelle getötet wurde, aber er wurde jedenfalls binnen
einer halben Stunde nach dem Mord hierhertransportiert«,
sagte sie, nachdem sie ihn umgedreht und von hinten untersucht
hatte.
»Also Körperkontakt mit dem Mörder?«, warf Marchal ein.
»Mal sehen.« Orla hatte einen kleinen Schnitt unter dem
rechten Rippenbogen gemacht und ein Thermometer in die Leber
des Mannes geschoben. Sie öffnete seine Augen.
»Cornea
beide Male getrübt.« Sie sprach abwechselnd in ihr Aufnahmegerät
und zu den Polizisten.
»Also länger als zwölf Stunden
tot. Rigor mortis noch nicht maximal, aber fast bis hinunter
in die Beine. Das passt allerdings nicht zu den Leichenflecken.
« Sie hob vorsichtig das Hemd und zeigte auf seine Seiten.
»Relativ wenige, falls er wirklich seit über zwölf Stunden
tot ist.« Sie betrachtete eingehend die Haut.
»Das kann natürlich
durch den großen Blutverlust kommen.« Sie beugte sich
tiefer hinunter.
»Habt ihr irgendwelche Spuren an seinem Körper
gefunden?«
Roland schüttelte den Kopf.
»Nichts soweit.«
»Hier sind Druckstellen.«
»Wo?«
»Das da sind keine Leichenflecken«, sagte sie und zeigte auf
die Oberarme des Mannes.
»Ich glaube, diese Druckstellen
stammen von Händen.« Sie schob das Hemd zur Seite und
deutete auf klar abgegrenzte ovale Flecken.
»Oder besser von
Fingern.«
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Marchal runzelte die Stirn.
»Ich finde, die sehen genauso
aus wie Leichenflecken.«
Sie sah hoch zu ihm.
»Marchal, wonach es aussieht, ist ziemlich
unerheblich, oder? Ich schlage vor, dass ihr einen Abdruck
nehmt. Jetzt gleich oder in die Pathologie.«
»Okay. Machen wir.« Marchal blieb skeptisch. Fingerabdrücke
auf elastischem Material wie zum Beispiel Haut erwiesen
sich oft als unbeständig. Sie ließen sich nur schwer exakt
reproduzieren und die Haltbarkeit war kurz. Aber der Mann
war weggeschleift worden, und der Mörder hatte um seine
nackten Arme gegriffen. Orla konnte sich nicht erinnern,
wann sie zuletzt solche Prachtexemplare von Abdrücken gesehen
hatte. Das konnten durchaus die Fingerabdrücke des Mörders
sein. Marchal winkte einen der Techniker zu sich.
»Hast
du das Zeug für Fingerabdrücke auf der Haut dabei?«
Er zögerte.
»Glaub schon. Cyanoacrylat, in dem Fall?«
»Perfekt. Wir versuchen es.«
Orla trat etwas zurück, um dem Techniker Platz zu machen.
Der Fotograf ging daneben auf die Knie. Der Kollege brach die
Verpackung auf, trug die Substanz auf die Druckstellen auf –
in der Hoffnung, sie würde sich mit Fett und Aminosäuren von
den Fingern des Mörders verbinden und Wirbel und Wellen in
einem perfekten Abdruck wie eine Offenbarung sichtbar werden
lassen. Orla starrte auf die Druckstellen: Drei Finger zeichneten
sich klar und deutlich ab. Aber nur der mittlere zeigte
den charakteristischen Fingerabdruck. Er kristallisierte vollkommen
aus.
»Zwei ohne Abdruck und einer mit?«, wandte Marchal ein.
»Versuch’s noch mal.«
Der Techniker wiederholte die Prozedur, nachdem das erste
Ergebnis fotografiert worden war. Das Resultat war das gleiche.
»Er kann diese Dinger benutzt haben.« Orla hob ihre Hände.
»Latexhandschuhe. Wenn er ihn hierhergeschleppt hat, kann
sich ein Fingernagel durch das Gummi gebohrt haben. Immerhin
hat er uns damit einen hübschen Abdruck hinterlassen.« Sie
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drehte sich zu Marchal um.
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»Wollt ihr den anderen Arm jetzt
gleich untersuchen, oder kann ich weitermachen?«
»Mach weiter.« Marchal ging in die Hocke und betrachtete
eingehend die nackte Haut.
»Wir nehmen die andere Seite,
wenn er im Obduktionssaal ist. Vielleicht schaffen wir es, etwas
mehr rauszuholen, wenn wir unsere Methoden noch etwas
verfeinern.«
»Apropos Finger«, murmelte er.
»Es sieht aus, als hätte er
sich verteidigt. Schau dir mal seine Hände an, Orla.« Er beugte
sich tiefer.
»Sind das Schnittwunden von einem Messer?«
»Nein«, sagte sie kurz.
»Du weißt, wo er gesessen hat. Es
gibt zahllose Ratten hier. Sie gehen an alles. Nase, Ohren, Finger
. . . und anderes.« Sie nickte in Richtung Unterleib des Mannes.
»Anscheinend ist er im Laufe der Nacht einem ganzen
Rattenheer ausgesetzt gewesen. Es handelt sich hier also nicht
um irgendeine Form sexueller Misshandlung, so wie es zunächst
aussehen könnte. Ich tendiere zu dieser Theorie, falls
wir bei der Obduktion nicht noch etwas entdecken, was das
Bild ändert«, fügte sie hinzu.
Marchal erhob sich wortlos und steckte die Hände in die
Taschen.
Orla machte weiter. Sie wollte nur fertig werden und wieder
losfahren. Der Gestank aus den Mülltonnen verursachte ihr
Übelkeit, und ihr Kopf war bleischwer, obwohl sie sich vom
Cyanoacrylat ferngehalten hatte. Sie zog das Thermometer heraus
und warf schnell einen Blick darauf.
»Er ist seit zirka
zwölf bis vierzehn Stunden tot. Todesursache: Stichwunden
und schwerer Blutverlust, soweit ich es hier beurteilen kann.
Ein ordentlicher Einstich über dem rechten Schlüsselbein.« Sie
legte die benutzte Ausrüstung in eine spezielle Tüte und versiegelte
sie.
»Wir werden die Auswirkungen des Einstichs bei der
Obduktion noch genauer prüfen – auf alle Fälle hat der letztlich
zum Tod geführt.«
Marchal sah sie an.
»Und warum hat man ihn fast nackt
hiergelassen?«
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Orla wäre es lieber gewesen, er hätte nicht gefragt. Gerade
in diesem Augenblick mochte sie nicht an die Körper denken,
die im Laufe der Jahre auf rostfreien Stahltischen im Krankenhauskeller
an ihr vorübergezogen waren. Oder an die Taten,
die ihren Zustand verursacht hatten.
»In meinem nächsten
Leben werde ich vielleicht als Wahrsagerin praktizieren. Bis
dahin muss ich mich mit den erbärmlichen Methoden begnügen,
die einem Rechtsmediziner zur Verfügung stehen, und
sehen, was dabei herauskommt.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Dr. Berlier wird Proben von allen Körperöffnungen nehmen,
sobald er da ist. Sperma lässt sich nachweisen.« Sie erhob sich.
»Es gibt alle möglichen perversen Tötungsvarianten. Aber es
kann auch eine falsche Spur sein.« Sie packte den Koffer.
»Falsche Spur?«
»Dieser Mord muss nicht unbedingt sexuell motiviert sein.
Wir werden sehen.« Sie wandte sich an das Ambulanzpersonal,
das bereitstand.
»Bringt ihn jetzt in die Pathologie und
macht dort die abschließenden Untersuchungen. Und prüft mal,
ob er hier gemeldet ist.«
Marchal wandte sich an Roland.
»Was weiß man bislang
über ihn?«
Roland schüttelte den Kopf.
»So gut wie nichts. Der Concierge
hat den Todesfall gemeldet. Das Einzige, was er bestätigen
kann, ist, dass er hier ein Zimmer hatte.« Er zeigte zur
Mansarde.
»Ansonsten behauptet er, weder Namen noch Alter
des Toten zu kennen.«
»Unsinn!«, protestierte Orla.
»Selbstverständlich weiß ein
Concierge das.«
Roland zuckte mit den Achseln.
»Ziemlich heruntergekommene
Örtlichkeit. Warum sollte ein Concierge seinen Job hier
besonders ernst nehmen?« Er machte eine Kopfbewegung zu
den überquellenden Mülltonnen.
»Er hat sich nicht mal darum
gekümmert, diesen Dreck rechtzeitig hinauszuschaffen, bevor
die Müllabfuhr heute Morgen kam. Sonst hätten wir früher
von dem Mord erfahren.«
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»War es auch der Concierge, der ihn gefunden hat?«
Roland nickte.
»Er fand den Mann erst gegen zwölf Uhr hier
an dieser Stelle. Da kam er vorbeigetrödelt mit seinem eigenen
Müll. Ich bin bisher nicht dazu gekommen, ihn richtig zu verhören.
«
Marchal sah sich um.
»Wir nehmen uns die Bewohner vor.«
Er sah auf die Uhr.
»Einige sind vielleicht zu Hause, auch
wenn’s mitten am Tag ist. Hast du dir eine Übersicht verschafft?
«
Roland nickte und reichte ihm ein Stück Papier.
Marchal sah kurz auf die Namen und steckte das Papier in
die Tasche.
»Mal sehen, wie weit wir kommen. Alles, was wir
an verfügbarem Personal haben, wird zunächst einmal in der
Nachbarschaft herumgeschickt.« Er ging zum Haupteingang,
ohne auf eine Antwort zu warten.
»Orla, kommst du mit
mir?« Er wandte sich an Roland, der schweigend hinter ihnen
stand.
»Ich übernehme das Erdgeschoss und den ersten Stock,
Nicolas. Du den zweiten und dritten.« Er sah auf die Uhr.
»Und
dann sehen wir uns um halb sieben im ›Luxembourg‹, essen
einen Happen und schauen mal, was wir bis dahin zusammenbekommen
haben.«
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