"Die Wohltäter" von Nuri Kino / Jenny Nordberg
Ganz großes Kino
Dieser Krimi ist ein Ereignis, und zwar in dreifacher Hinsicht.
Erstens sind da die Autorin Jenny Nordberg und der Autor Nuri Kino, zwei hochdekorierte schwedische Investigativjournalisten, die in einer Reihe mit Liza Marklund, Stieg Larsson und Matti Rönkä stehen und zeigen, daß sich die Beherrschung der knappen journalistischen Form und die Fähigkeit, spannende und relevante Krimis nach allen Regeln des Genres zu scheiben, aufs Glücklichste ergänzen können.
Zweitens ist der skandinavische Krimi immer noch überwiegend ein ethnisch homogener Heimatroman. Die Mehrheitsgesellschaft ist das Opfer, Migrant_innen sind häufig die Regelverletzer, und sei es auch nur durch illegale Einwanderung, und aufputzen müssen dann wieder die Einheimischen. "Die Wohltäter" erzählt aus einer ganz anderen Perspektive. Ermittelnde Hauptperson ist der aus der Türkei stammende Journalist Ninos Melke Mire, gut gebildet, gut integriert und mit einer riesigen Verwandschaft in der ganzen Welt ausgestattet. Allerdings ist Ninos kein Muslim, sondern ein assyrischer Christ.
Wir erfahren, daß "kher" (anderen etwas Gutes tun) eine bei den Assyrern lebendige und praktizierte Tradition ist. Deshalb wird Ninos hellhörig und wütend, als ihm erzählt wird, daß die in ganz Schweden tätige Organisation "Hilfe von Hand zu Hand" (HHH), die Altkleider für die notleidende Dritte Welt sammelt, Entwicklungshilfegelder veruntreuen soll. Als journalistischer Seiteneinsteiger bei Schwedens größter Tageszeitung – natürlich nicht auf einer festen Stelle, sondern mit einem "Integrationszuschuß" - versucht Ninos, diesen Verdacht aufzuklären, eine Verbindung zwischen der HHH und der Sekte "Die Ausbilder" herzustellen und deren weltweite Aktivitäten aufzuklären. Bei seinen Ermittlungen hat er schwache Verbündete und mächtige Gegner. Am Ende ist die HHH in Schweden zwar erledigt, aber dem Kraken ist bereits ein neuer Arm gewachsen – aus strukturellen Gründen, die mit dem Charakter der Entwicklungshilfe in westlichen Demokratien zu tun haben.
Hausgemachtes Problem
Der scharfe Blick aus Ninos' Augen in das Innenleben des Alten Europa ist das dritte Verdienst des "universellen satirischen Thrillers" (so Jenny Nordberg im Interview mit journalisten.se). Die Schwed_innen, die Ninos während seiner Ermittlungen trifft, erscheinen wie Karikaturen: Den Leser_innen von Ninos' Enthüllungen ist es egal, was mit ihren alten Kleidern passiert. Hauptsache, die Klamotten sind aus dem Haus. Die schwedische Regierung will die Chefin des Reichsrechnunghofes loswerden, die allzu genau nach der Verwendung der Entwicklungshilfegelder fragt. Die Mediengewerkschaft legt die Arbeit der Zeitung ausgerechnet dann durch einen Streik lahm, als Ninos eine Spur der "Ausbilder" gefunden hat. Sein Arzt hört ihm nie zu. Die Radiokollegin Karin ist sehr empfindlich für eigene Diskriminierungserfahrungen, aber völlig gleichgültig gegenüber den Themen, über die sie arbeitet. Das schwedische Vereinsrecht sieht vor, daß privatrechtliche Vereine wie der HHH keinerlei öffentliche Rechenschaft über ihre Finanzen ablegen müssen, was Vereinsgründer aus allerlei Schurkenstaaten anzieht. Nachdem die HHH aufgeflogen ist, wird das Vereinsrecht nicht etwa geändert, sondern die Regierung vertuscht den Skandal. Und so weiter. Einzig Migrant_innen wie Ninos und seine Tante Samira, eine Geschäftsfrau, scheinen Freiheit, Demokratie und Stabilität in Schweden zu schätzen und zu verteidigen.
"Wohltäter" auch in Deutschland aktiv
Ninos Melke Mire ist ein literarisches Alter Ego von Nuri Kino, und auch die HHH als operative Einheit der Sekte "Die Ausbilder" hat ein reales Vorbild, das der Investivjournalist Kino 2001 in das Licht der Öffentlichkeit gerückt hat:
Es ist dies die Organisation Tvind, die in einigen europäischen Ländern als Sekte eingestuft ist. 1973 von dänischen Linksradikalen als alternativer Schulträger gegründet, legte sich Tvind in den 1980er Jahren einen Geschäftszweig zu, der der von Kino und Nordberg geschilderten HHH aufs Haar gleicht, ebenso wie die Geschäftspraktiken. Das europaweite Altkleidergeschäft wirft riesige Gewinne ab, von denen allerdings nur ein bis zwei Prozent tatsächlich in Entwicklungshilfeprojekte fließen. Der Rest verbleibt im Imperium und in den Taschen der "Lehrergruppe" genannten Führungsschicht von Tvind. Speziell ist auch die Art, wie Tvind seinen Bedarf an Arbeitskräften für das Altkleidergeschäft deckt: Mit der Aussicht auf Einsätze in Entwicklungsprojekten in Afrika, Asien und Lateinamerika werden überall in Europa enthusiastische Jugendliche angeworben, die sich dann in Altkleidersortieranlagen oder Drückerkolonnen wiederfinden, wo sie die Gebühren für die organisationseigenen "Schulungskurse" abarbeiten müssen.
Das Altkleiderimperium von Tvind heißt Humana, das auch in Deutschland mit seinen Sammelcontainern, 14 Läden – davon allein zehn in Berlin - , einem Sortierbetrieb und der Anwerbung von Freiwilligen aktiv ist, deren Erfahrungen übrigens häufig negativ sind.
Die Tätigkeit von Sekten und Firmen wie Humana in Deutschland ist wohl der Preis der Freiheit, den wir in einer demokratischen Gesellschaft zahlen können. Wir können uns informieren, und wir können entscheiden, wem wir unsere Altkleider spenden und wo wir unsere Second Hand-Garderobe kaufen.
Vielen Dank an Dr. Kerstin Herbst aus Berlin
© Mai 2010 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien
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