Leseprobe
1Sie fressen meine Wälder!
Vier Bagger, nein, fünf, sechs reißen ihre Rachen auf, kauen
Gras, sabbern Erde; und Büsche und Blumen hängen ihnen dabei
im Mundwinkel. Die Bäume in Hamars Strandgatepark fallen, einer nach
dem anderen, unter dem wilden Chor der Sägenstimmen die majestätischen
Ahornbäume, die Linden, die Birken Schwanken und legen sich schräg,
zögernd, als wollten sie in die Knie gehen und um eine letzte Gnadenfrist
bitten. Aber die Feuerwehr ist schon zur Stelle, mit Leitern und Stricken,
die wie Galgenschlingen von den obersten Ästen herabhängen,
ehe sie angezogen werden und der Henker mit der Säge sein Werk vollendet.
Das Gebrüll erstickt jedes Flehen, die Stahlzähne zerreißen
die letzten Verbindungsstücke und Fasern, und die alten Bäume
sinken mit tiefem Stöhnen zu Boden, als ob Schande und Erniedrigung
dieses destruktiven Tableaus schwerer zu ertragen sind als die eigentliche
Zerstörung des ältesten Lebens in der Stadt.
Jetzt, wo ich das aufschrejbe ist es schon Viertel nach fünf, noch
steht die Sonne hoch über Tingnes auf Nes, und der Schatten meines
Bleistiftes bildet mit der horizontalen Ebene des weißen Papiers
einen Winkel von ungefähr vierunddreißig Grad. Ich habe der
Zerstörung vor einigen Stunden beigewohnt, aber es macht mir keinerlei
Schwierigkeiten, mir das
Ganze wieder ins Gedächtnis zu rufen, ebenso intensiv, ebenso entsetzlich
wie in Wirklichkeit. Denn ich lebe nun einmal in allen Zeiten zugleich.
Und sollte ich bei meiner ewigen Suche nach dem richtigen Wort in meiner
Beschreibung steckenbleiben, dann leihe ich mir eins aus der Zeitung,
aus einem Buch oder von einem Dichter.
Von meinem Aussichtspunkt hier sieht es entsetzlich aus. In meinen Augen
ist das Fällen der Bäume im Strandgatepark, die der neuen Straße
weichen müssen, ein Massaker. Die Baumstämme liegen dort nebeneinander,
unbeweglich, wie Kadaver. Strandgateparks uralte Einwohner liegen da in
Reih und Glied mit leuchtend weißen Wundflächen, die pure Leichenschau.
Und die Kirchturmglocken läuten!
Und dahinter tost das Feuer des Reisighaufens so wütend wie ein Leuchtfeuer.
Ein Lindwurmfeuer. Der Rauch legt sich dick und stinkend über die
ganze Umgebung, über den Park und die umliegenden Straßen.
In der Strandgate sind zwei Autos zusammengestoßen. Ein Ereignis.
Ein winzig kleines Unglück: Glasscherben, eingedrücktes Blech,
Lackfetzen, die glitzernd auf den Asphalt rieseln, eine Autofahrerin,
die mit erregten, unnatürlichen Gesten aussteigt. Sie trägt
rot. Die Leute auf dem Bürgersteig bleiben stehen und tauschen furchtsame,
aufgeregte Blicke, erschrocken und zugleich ein wenig erregt von der Ahnung,
daß hier in Hamar plötzlich vielleicht noch etwas Schlimmeres
passieren könnte. Denn darauf warten sie doch, auf ein wirkliches
Ereignis, auf etwas Entsetzliches, eine kleine Katastrophe, die sie zumindest
vorübergehend aus dem Schlaf rüttelt, die sie aus ihrer leeren
Alltagsverwirrung herauslockt, ihre Behaglichkeit mit Leben erfüllt.
Es ist jetzt zwanzig nach sechs, und die Sonne zieht über dem violetten
Hügelkamm eine steilere Bahn. Der Schatten des Bleistiftes bildet
mit der horizontalen Schreibunterlage einen Winkel von siebenundzwanzig
Grad. Aber ich fürchte den Abend nicht. Ich habe mich im Dunkeln
immer schon am wohlsten gefühlt, nachts fühle ich mich sicher,
fühle mich weniger gefährdet, wenn sie schlafen und ich sie
nicht sehen kann. Schließlich kommen in ihren Gesichtern Gefühle
zum Ausdruck, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Die Menschen sind
so, wie sie aussehen, auch wenn sie ihr Leben mit Mimik und Verkleidungen
tarnen. Alle verraten sich. Ein Gesicht, das wir in einem unaufmerksamen
Moment einfangen, zeigt alles. In der Menschenmenge sehe ich nur Angst
und Sehnsucht, die bittere Not der Einsamkeit, die Deformierung durch
den Wunsch nach Liebe, die Wut des Dürstens nach Gerechtigkeit, alle
Gesichter sind ein Geflimmer von unzensierten Ausdrücken. Ein Chaos!
Und ich muß meinen Blick eine Weile im frühlingsweißen
Himmel zur Ruhe kommen lassen, den ziehenden Wolken folgen, während
ich meine Tränen wegzwinkere. Jetzt kann ich zum Beispiel wieder
beobachten, wie sich vor meinen Augen, um einen banalen Verkehrsstau unten
in der Strandgate herum, ein Gefühlschaos manifestiert. Eine minimale
Kollision, die aber doch etwas anderes und Schlimmeres signalisiert und
die Aufmerksamkeit der Leute erregt. Ein Streifenwagen ist bereits zur
Stelle, rücksichtslos auf dem Bürgersteig platziert, wo er einen
abweichenden Winkel zur normalen Verkehrsrichtung bildet. Noch mehr Zuschauer.
Noch mehr Unruhe im Bild: Erklärungen. Gestikulieren. Ob es vielleicht
Verletzte gibt? Die Frau in Rot in der Hauptrolle. Ich erkenne sie. Ich
erkenne die meisten hier in der Stadt. Die Neugierigen, die dazuströmen
und sich immer dichter aneinanderdrängen, mit Gesichtern voller gespannter
Erwartung einander ansehen, grüßen, in plötzliches Gelächter
ausbrechen, als fungiere gerade dieser Verkehrsunfall als Auslöser
eines positiven Gemeinschaftserlebnisses Das Lokalfernsehen ist auch schon
da. Die Kamera läuft, und die Umstehenden verwandeln sich in eine
Schar von aufgeregten, unnatürlichen Schauspielern, denen es vergönnt
ist, für einige Sekunden in ihrem eigenen Kleinstadtleben die Hauptrolle
zu spielen.
Buchtipp |
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Mein Platz aber ist ein Stück entfernt. Hier stehe ich und betrachte,
ohne daß meine Anwesenheit irgend jemanden störte. Das hier
ist sogar einer meiner Lieblingsplätze, beim Imbiß in der Bekkegate
gleich unterhalb der Kreuzung vor der Fußgängerzone. Hier kann
ich ganz einfach dastehen und Würstchen essen - ich liebe Würstchen
- und gleichzeitig die Ereignisse in drei zentralen Straßen und
dem Straßencafe im Auge behalten. Von hier aus blicke ich über
die Köpfe der Leute hinweg, die sich in der Strandgate zusammenscharen.
Ich versuche, die unheilverheißende Kollision und die Dame in Rot
zu vergessen, die ich wiedererkenne. Alles passiert zu schnell, und das
beunruhigt mich. Die Bagger verschlingen Hamars Erde, fressen sich immer
weiter auf den baufälligen Pavillon zu. Ich sehe, daß die Arbeiter
sich über einen weiteren Ahornbaum im Park hermachen, einen der letzten.
Das Kreischen der Säge tut meinen Ohren weh. Ich habe das Gefühl,
daß das Sägeblatt mein eigenes Fleisch zerfetzt. Die Baumkrone
schwankt. Ein Bagger nähert sich jetzt dem morschen Fundament des
Pavillons, um ihn einzureißen, wie brutal. Wie brutal! Sie haben
keinerlei Pietät! Sie haben keine Ahnung, was sich in Hamars uraltem
Boden möglicherweise verbirgt. Die Bretter knacken. Meine Beine zittern,
und ich muß mich am schmalen, gefleckten Sims der Imbißbude
festklammern, während ich wie besessen kaue und kaue und schlucke,
um den ärgsten Schmerz zu betäuben. Würstchen mit Kartoffelfladen,
Brot und Zwiebeln. Die Spezialität des Hauses. Mein absolutes Lieblingsessen.
Ich lasse meinen Blick in den Wolken zur Ruhe kommen. Ich will erst ruhiger
werden, ehe ich neue Würstchen kaufe. Das Sozialamt zahlt. Ich kann
so viele kaufen, wie ich will. Es hat eben auch Vorteile, als "Freigänger"
zu gelten, als normaler Patient der Psychiatrie, der keine Gefahr bedeutet.
Die Blumen blühen, und der Qualm des Reisigfeuers brennt mir noch
hier oben in den Augen. Meine Tränen fließen, und noch immer
läuten die Kirchenglocken wie besessen. Denkt denn keiner von denen,
die sich da unten versammelt haben, an das Schlangenfeuer, das damals
Tag und Nacht brannte, nachdem der tapfere Knecht des Bischofs die Seeschlange
durch einen Pfeilschuß ins Auge getötet hatte und die geschäftigen
Einwohner des Handeilplatzes einen Scheiterhaufen auftürmten, um
den verfaulenden Schlangenkadaver zu verbrennen? Damals hing der stinkende
Rauch des Feuers noch wochenlang über der Stadt. Das ist in der Chronik
zu lesen. Dort sind auch die anderen Vorzeichen erwähnt: der Stier,
der von Gillundstrand aus über den See kommt, das Glockenläuten
Tag und Nacht. Eine Warnung vor kommendem Unheil.
Jetzt kommt wieder Bewegung in die Menschenmenge. Der Verkehrsunfall ist
nicht mehr von Interesse. Das eine Auto ist weggefahren. Das andere hängt
am Kran des Abschleppwagens. Die Polizisten sitzen in ihrem Auto und notieren.
Und der Strom der Menschen geht an ihnen vorbei in Richtung der Bagger,
von denen einer gerade mit dem Abriß des Musikpavillons begonnen
hat. Der Kranarm war in heftiger Bewegung. Anfangs ging es schnell, dann
wurde die Arbeit plötzlich unterbrochen, und nun versammeln sich
da unten die Menschen. Alle wollen plötzlich dorthin, wie getrieben
vom selben Instinkt, dem gemeinsamen Wunsch nach einem Ereignis, einem
echten Erlebnis, etwas Unangenehmem, einer Erinnerung. Und mich packt
die Angst, denn auch ich spüre diese Erregung, diese Erwartung des
Entsetzlichen. Und nun geht es auch bei mir los, ich weiß, daß
es nicht gut für mich ist, daß ich mich heraushalten sollte,
aber es hat angefangen, und schon werde ich mit den anderen dorthin gezogen.
Ich weiß mehr als sie. Ich bin zu allen Tageszeiten unterwegs und
sehe Dinge, die sie nicht sehen. Ich weiß, was dieser Park verbirgt,
und ich zittere vor Angst vor dem, was zu Tage kommen kann, wenn Hamars
alte Erde umgegraben wird, diese Erde, die durch unzählige tote Körper
entstanden ist
Danke an den btb-Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |