Leseprobe
Freitag, 4. Juni
Später war mir klar, dass die junge Frau auf der Post Blanca gewesen
sein musste, doch damals hatte ich nur einen Gedanken im Kopf, nämlich
dass ich Frau Gustafsson mit Färbepastete im Haar allein in meinem
Salon zurückgelassen hatte und dass das Mittel zwanzig Minuten
lang einwirken musste. Ich hatte Angst, ihre spröden Spitzen könnten
sich zu sehr voll saugen und dunkler werden als am Haaransatz. Frau
Gustafsson hatte sich nämlich von ihrer Schwägerin zu Hause
eine Dauerwelle machen lassen, und danach sahen die Haare auch aus.
Ich hatte ihr gesagt, wir würden erst färben, wenn die Dauerwelle
herausgewachsen war, aber Frau Gustafsson war, wie immer, dickköpfiger
als ich.
Nachdem die Karte mit der Mitteilung gekommen war, dass das Paket mit
der neuen Dauerwellen-Flüssigkeit auf dem Postamt lag, schielte
ich die ganze Zeit auf die Uhr. Die Post machte um drei zu. Wenn ich
das Mittagessen ausfallen ließ und die Kunden pünktlich kamen,
hätte ich ein paar Minuten Spielraum. Und während ich Frau
Gustafsson das Haar scheitelte und mit Farbe einpinselte, linste ich
aus dem Fenster. Wir hatten Anfang Juni und die größte Hitzewelle
aller Zeiten. Ein Gewitter braute sich zusammen. Hinter der Kirche zogen
dunkle Wolken auf, und bald würde das Unwetter über der Stadt
hängen. Es grollte schon.
Sobald ich die Farbe fertig aufgetragen hatte, rannte ich zur Post,
um das Paket abzuholen.
"Janna Li Korpmann."
Die junge Frau studierte meinen Namenszug und schaute suchend zur Decke
hinauf, als kramte sie im Gedächtnis, ließ die Finger der
linken Hand über den Hals wandern, fühlte, ob der Knutschfleck
noch da war, und machte den obersten Knopf ihrer Bluse zu.
Dann fiel es ihr wieder ein.
"Ausgefallener Name", sagte sie. "In der achten Klasse
hatte ich eine Klassenkameradin, die hieß Manda Korpmann, und
wenn ich mich recht erinnere, hieß ihre Mutter Janna Li und war
Frisörin. Das müssen Sie sein. Sie wohnen doch in Mattisböle?"
Sie war mir auf Anhieb unsympathisch. Sie war zu vertraulich und aufdringlich.
Gleich würde sie sagen, sie kenne auch Mandas Vater. Dass er Josef
heiße und Janna Li und Manda wegen einer gewissen Mercy verlassen
habe. Was, wenn sie nun Mercy kannte und sie nett fand? Nein, ich mochte
diese junge Frau nicht.
"Stimmt", entgegnete ich. "Ja, Janna Li, das bin ich,
und mir gehört der Frisörladen auf der anderen Seite vom Marktplatz.
Nett, Sie kennen zu lernen. Sie sind neu hier, oder? Manda kommt heute
Abend mit dem Bus und jobbt ab nächster Woche den Sommer über
beim Amtsgericht."
"Ich bin in das weiße Haus drüben in Kuggen eingezogen",
erklärte die junge Frau und machte den obersten Knopf wieder auf,
"deshalb fahre ich jeden Tag durch Mattisböle. Gehört
der große Schäferhund auf dem Bootssteg euch?"
Sie muss ein Fernglas benutzt haben, dachte ich. Sofern sie nicht mit
dem Boot auf dem Mattisjärvi herumgepaddelt war.
"Sie kennen doch Saber?", fragte sie.
Der auch noch, dachte ich und trat von einem Holzschuh
auf den anderen. Sie schien so manches zu wissen. Was konnte Saber ihr
erzählt haben?
"Ich muss mich beeilen", sagte ich, schnappte mir das Paket
und zog ab. Ich hatte gerade den Torweg erreicht, als der Regen über
dem Marktplatz niederprasselte.
Dann vergaß ich die junge Frau, weil Frau Gustafsson im Löwäsbiadet
über die Bauarbeiten an der nördlichen Ausfahrt gelesen hatte
und mich nach meiner Meinung zum Brückenbau befragte. Und obwohl
Frau Gustafsson an dem Tag meine letzte Kundin war, schielte ich beim
Föhnen die ganze Zeit auf die Uhr.
Wenn jetzt nur nicht Sigrid Stolpe zu spät kam, damit ich noch
aufräumen, sauber machen und die Handtücher zusammensammeln
konnte, ehe ich Manda vom Bus abholte.
"Wir fahren beim Supermarkt vorbei", verkündete ich.
"Du hast bestimmt Hunger, oder?"
"Ja. Ich hab Lust auf was richtig Leckeres", sagte Manda,
als wir den Einkaufswagen bis zum Rand voll luden.
"Ich auch", stimmte ich ihr zu. "Ich hab gar nichts gegessen,
weil mir so flau im Magen ist."
"Das ist dir doch immer", befand Manda und schüttelte
ihr dickes dunkles Haar. "Du bist müde und hast zu viel Kaffee
getrunken. Von Kaffee kann man Depressionen kriegen. Isst du denn genug?"
"Ja, klar."
"Auch Vitamine? Empfindliche Menschen leiden nämlich, wenn's
gewittert. Wenn wir zu Hause sind, dann koche ich."
Während wir im Supermarkt einkauften, hatte der Regen nachgelassen.
Der Asphalt westlich vom Parkplatz dampfte schon, und über Mattisböle
hatte der Himmel aufgeklart. Manda hievte die Einkaufstüten in
den Kofferraum und schob den Wagen ohne zu murren in den Ständer.
Meine kleine Manda, dachte ich bei mir, und mir war danach, es auszusprechen:
Ich habe schon den ganzen Sommer gewartet, dass du nach Hause kommst. Laut jedoch sagte ich:
"Wir werden jeden Tag kochen."
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"Und Nachtisch gibt's auch", ergänzte Manda und band
sich die Haare zusammen, sodass ihr weißes, fast durchscheinendes
Gesicht schön zur Geltung kam.
Manda sieht aus wie eine Porzellanpuppe, aber davon darf man sich nicht
täuschen lassen. Keiner soll glauben, sie sei schwach oder zerbrechlich.
Niemand macht Manda etwas vor. Manda kommt mit jeder Lebenssituation
zurecht. Das Einzige, worüber ich mir bei ihr Sorgen mache, sind
ihre Haare. Dass sie von einer Frisörin überredet werden könnte,
sich die Haare ausdünnen zu lassen. In meiner Branche gibt es Stümper,
die den Anblick von einer natürlichen Haarmähne nicht ertragen.
Manda wollte sich unbedingt hinter das Steuer meines roten BMWs setzen,
und obwohl ich alles andere als gern auf dem Beifahrersitz Platz nehme,
gab ich nach. Sie hatte ihren Führerschein noch nicht lange. Sie
musste noch üben. Und ich versuchte mich zu entspannen, obwohl
ich nervös war. Überblickt sie die Verkehrslage?, überlegte
ich. Sie hält doch wohl Abstand zu dem Wagen vor uns? Außerdem
war mir so, als hätten wir irgendetwas Wichtiges vergessen. Ich
fragte mich, was das gewesen sein mochte.
"Oh, was habe ich für eine Sehnsucht nach Honey und Waldemar",
seufzte Manda. "Und wie geht's der Clique?"
Zur Clique von Mattisböle gehörten - von Manda abgesehen
- Vanja, Liisi und Nikos. Seit zwei Jahren wohnen sie zur Miete in Lerbackas
Haus, dessen Besitzer solange in Torremolinos lebt. Sie sind unsere
Nachbarn, und wenn Manda zu Hause ist, geht sie hin und wieder auf einen
Sprung hinüber. Die Frauen sind knapp über zwanzig, so wie
Manda.
Jedenfalls sehen sie so aus.
Liisi Mäkinen ist arbeitslos und hat einen zweijährigen Sohn,
der Mås heißt. Der Vater ist unbekannt. Vanja Lebedeff jobbt
im Pastorat und hat eine Katze namens Gullebrand, die die niedlichste
Katze der Welt ist, außer wenn sie unseren Waldemar anfaucht.
Nikos Viklund ist um die dreißig und arbeitet in der Verwaltung
des Wasserwerks. Welche Rolle er in der Familie spielt, durchblicke
zumindest ich nicht ganz.
Frage ich Manda, dann sagt sie, dass sie in einer Wohngemeinschaft leben,
und was ist schon dabei, fügt sie so naseweis hinzu, dass ich vorgebe,
ich verstünde, was Sache ist. Wenn man im September fünfundvierzig
wird, ist man zum Fragen und Verstehen offensichtlich schon zu alt.
Wenn wir Löwäsa hinter uns gelassen haben und den Mattisbölevägen
entlangfahren - so wie jetzt - kommen wir zuallererst in einen
Kiefernwald.
"Vergiss nicht, dir den Kiefernwald anzuschauen", sage ich
immer zu den Leuten, die uns besuchen.
Die Straße wird hier schmaler, und die Bäume stehen so dicht
an der Fahrbahn, dass sie im Winter Schneebrocken auf das Auto werfen.
Nach dem Findling zur Rechten gelangen wir in den Lärchenwald.
"Vergiss nicht, dir den Lärchenwald anzuschauen", sage
ich immer zu den Leuten, die uns besuchen.
Die Bäume müssen vor mindestens hundert Jahren angepflanzt
worden sein, denn größere und schönere als diese habe
ich noch nie gesehen.
Zwölf Minuten von Löwäsas Ortskem entfernt wird das Ufer
des sieben Kilometer langen Mattisjärvi sichtbar, den alle Mandel
nennen, weil er die Form einer Mandel hat. Die Straße biegt nach
rechts ab und führt zu einem Mischwald, verläuft jedoch die
ganze Zeit am See entlang, der stets linker Hand liegt. Den Raum zwischen
Straße und Wasser nimmt der Strand ein, hübsch wie Auslegeware
aus dünnem, weichem Gras, ausgenommen an der Spitze der Mandel,
wo sich ein Sandstrand befindet.
Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |