Leseprobe
15Lindvig untersucht das Foto eingehend. Er schüttelt den Kopf. »Wenn
es Schmu ist, dann ganz sicher außergewöhnlich gut gemachter«,
sagt er.
»Es ist Schmu, es muß Schmu sein. Die Frage ist nur, wie es
gemacht wurde.« Er zuckt die Achseln. »Tja, unmöglich,
das mit Sicherheit zu sagen. Irgendwas, wovon sie ausgegangen sind, müssen
sie ja gehabt haben. Sie könnten natürlich einen anderen Körper
benutzt haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Das ist doch ihr
Körper, oder?«
»Ja, Moniques Körper kenne ich.« »Sieh mal«,
sagt er und klickt ein paar Pull-down-Menüs auf dem Computer an.
Oder vielmehr auf der »Workstation«, wie er insistiert. Obwohl
das Ding für mich nun wirklich genau so aussieht wie das, was ich
unter einem Computer verstehe. Monitor, Keyboard, Maus. Er öffnet
ein Fenster auf dem Schirm. »Im Prinzip kann man heute mit einem
Computer alles machen«, sagt er und klickt mit der Maus. Ein einfaches,
gestricheltes Bild erscheint auf dem Monitor. »Das hier ist der
erste Entwurf für eine typische Animation.«
Das Bild zeigt ein Zimmer, das mit weißen Linien auf schwarzem Hintergrund
gezeichnet ist. Die einzelnen Requisiten sind nur mit wenigen Strichen
angedeutet. Eine Kaffeekanne, ein Tisch, eine Lampe, ein Spiegel, von
allem etwas. Die Szene ist von oben gesehen. Sie macht im
Vergleich zu dem Foto-Schmu, der danebenliegt, keinen nennenswerten Eindruck
auf mich. »Wart's nur ab«, sagt er. »Noch ist es orthogonal,
das heißt, ohne Perspektive. Jetzt gehen wir das Ganze von Stufe
zu Stufe durch. Paß mal auf, was gleich passiert.« Er klickt
das nächste Bild hervor. »Jetzt habe ich runtergezoomt, und
wir sehen das Ganze wie durch eine Kamera. Wir gucken uns das Zimmer jetzt
mal genauer an. Du siehst Objekte wie in einem normalen Wohnzimmer. Immer
noch mit Linien gezeichnet und durchsichtig, aber ich habe depth-cueing
darübergelegt. Das bedeutet, es kommt Tiefe ins Bild. Die Polygone
ziehen sich zum Fluchtpunkt zusammen. Das gibt dem Ganzen Dimension, wie
in der Realität.« Er klickt weiter. Er legt Farben auf die
Linien, aber immer noch wirkt es streichholzartig. Er legt Farbe auf die
Figuren, aber es bleiben Farbflächen. Das Bild sieht jetzt aus wie
ein Aquarell im Anfangsstadium.
Er klickt erneut.
»Jetzt haben wir shading dazugelegt. Es ist an die individuellen
Flächen gekoppelt, die durch die Polygene gebildet werden. Das ist
die einfache Variante, Perspektive zu schaffen.« Langsam wird etwas
aus dem Bild. Es bilden sich neue Farben, Farbnuancen und eigene Schatten
für Lampen, Kaffeekanne und Aschenbecher. Trotzdem sieht es immer
noch künstlich aus, ähnelt einer kubistischen Zeichnung mit
klaren, gesättigten Farbflächen.
»Jetzt kommt das Wichtigste: Gourauds Algorithmus. Smoothing nennt
man das. Oder discontinuity.« Jetzt kommt Leben in die Sache. Die
Schlagschatten werden tief und intensiv, Lichtreflexe lassen die Gegenstände
aufblitzen. Aber immer noch besitzt das Bild keine Authentizität,
immer noch sieht es künstlich aus. »Eben weil wir die Lichtreflexe
erst jetzt berücksichtigen«, sagt er, während er das nächste
Bild hervorklickt. »Jetzt siehst du das gleiche Bild, aber mit einem
anderen Algorithmus berechnet: Phongshading heißt er, macht alles
sehr viel realistischer, weil die Wirkung des Lichts in jedem einzelnen
Pixel untersucht wird. Aber dazu braucht man auch viel mehr Rechenkapazität.
In
diesem Stadium kann man auch erkennen, daß mehrere Lichtquellen
hinzugefügt wurden. Die Lampe brennt, und man sieht das Licht auf
dem Tisch.« Das letzte Bild, das er hervorklickt, zeigt die totale
Manipulation. Von einzelnen Linien sind wir ausgegangen, jetzt sind wir
bei einem Bild angelangt, das von einem Foto fast nicht mehr zu unterscheiden
ist. Der Spiegel an der Wand reflektiert die Gegenstände auf dem
Tisch. Sie spiegeln sich in der Tischoberfläche, die glänzt
und aussieht wie gelackt. Das Licht steht perfekt. Wie durch Magie ist
mit Hilfe von Formeln, die in Menüs eingespeichert sind, aus einzelnen
Linien ein Bild entstanden, das das Auge bis ins letzte betrügt.»Man
nennt das Fotorealismus«, sagt er und klickt die Bilder weg. Er
nimmt das Foto in die Hand und starrt es durchdringend an. »Im Prinzip
kann das hier, obwohl es ungeheuer lebendig aussieht, auf die gleiche
Weise gemacht worden sein. Normalerweise geht man von etwas aus. Von einem
Foto, vielleicht von mehreren Fotos. Die würde man dann in ein Bildbearbeitungsprogramm
einscannen und manipulieren.«
»Und dann auf den Hintergrund legen?« frage ich.
»Der Hintergrund muß nicht unbedingt echt sein«, sagt
er. »Wie meinst du das? Ich kenne den Raum, diese Tapete, den Spiegel.
Ich habe da gewohnt. Es ist das Four Seasons.«
»Nicht unbedingt.«
Er öffnet ein Pull-down-Menü, geht in ein paar Untermenüs,
klickt eine Box mit einem Bild an, auf dem eine Kugel mit dunkelbraunen,
holzigen Farben in verschiedenen Schattierungen und in Hochglanz zu sehen
ist. »Procedural textures. Hier werden Grundstrukturen von natürlichen
Materialien wie Holz, Marmor und Wolken nachgeahmt. Das Ganze basiert
auf Formeln. Man kann die Materialien vermischen oder färben - wie
man es gerade haben will. Tausende von Möglichkeiten liegen in so
einem SoftwarePaket. Und sie können weiter kombiniert und manipuliert
werden, so daß es unzählige Möglichkeiten gibt.
Man kann genau den Hintergrund herstellen, den man sich wünscht.«
Ich hole das Video hervor, lasse die Kassette, die im Videorecorder sitzt,
auswerfen und lege das Band mit Nikolaj Martin ein. »Sieh dir das
mal an.« Ich spule etwas vor. Nikolaj Martin erscheint viril und
sonnengebräunt in der Krankenhaussequenz. »Was gibt's da zu
sehen?« fragt Lindvig. Dann lehnt er sich langsam nach vorn und
konzentriert sich auf die Bilder. »Das ist er ja«, sagt er.
»Was gibt's denn da zu sehen? Das ist er doch.« Ich schüttele
den Kopf. »Stimmt, es ist Nikolaj Martin. Aber ich habe meine Zweifel,
daß er überhaupt jemals von Moniques Existenz gewußt
hat.«
»Verstehe ich nicht«, sagt Lindvig. »Einen Augenblick.«
Ich halte das Bild an, spule langsam vor, halte an. »Da«,
sage ich.
»Was?«
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»Guck dir das Foto an! Guck auf den Monitor. Es ist das gleiche
Bild.« Er schaut auf das Foto, auf den Monitor, wieder auf das Foto.
»Es ist genau gleich«, sagt er. »Es ist tatsächlich
das gleiche Bild.« »Abgesehen von Monique. Sie fehlt, sie
ist eingesetzt worden.«
Er hält sich das Foto direkt vor die Augen. »Es ist nicht zu
sehen. Es ist nicht zu erkennen.«
Für einen Moment habe ich den Eindruck, als gefiele es ihm, daß
es nicht zu erkennen ist.
»Ich finde es beunruhigend, daß man es nicht erkennt«,
sage ich.Lindvig starrt fasziniert auf das Foto. Entweder beeindruckt
ihn die Fälschung, oder es überkommt ihn eine kindliche Freude
darüber, gefoppt worden zu sein. »Eigentlich ist es doch unfaßbar,
wie schlecht wir sehen«, sagt er. »Eigentlich ist es doch
beängstigend, wie unglaublich schlecht wir sehen.« Dann steht
er auf und hält einen Monolog
über die Schwäche unserer Optik. Ob ich mir darüber im
klaren sei, daß sie stereoskopisch ist und nur auf Licht von Wellenlängen
zwischen 3000 und 7700 Ångström reagiert? Ob ich wüßte,
daß wir zwischen 1200 Grautönen unterscheiden, aber Farben
nicht so gut auseinanderhalten können? Ob mir bekannt sei, daß
wir die Welt nicht dreidimensional sehen, sondern dies erst von klein
auf
lernen? Ich schüttele den Kopf. Ich habe den vagen Eindruck, daß
ich von alledem schon mal gehört habe, aber es summt in meinem Kopf.
Als Journalist ohne eigentliches Spezialgebiet springt man von Thema zu
Thema. Man bohrt, liest, telefoniert, und im Laufe von ein paar Tagen
ist man plötzlich Experte für ein Fragment der Wirklichkeit.
Häufig verwendet man nur einen Bruchteil der Informationen, die man
ausgegraben hat. Nach kurzer Zeit hat man fast alles wieder vergessen.
Das Ganze erinnert an Prüfungsvorbereitungen. Man paukt sein Pensum
für einen
bestimmten Termin. Nur ab und zu bleiben Reste von Wissen und ein paar
Fakten übrig. Ich erinnere mich zum Beispiel nur noch, daß
niemand die schwierigen, etwas zu technischen Artikel über japanischen
Protektionismus und die losbrechende Revolution auf den Informationshighways
las. Manche der Chefs interessierten sich in erster Linie dafür,
uns auf die großen Namen loszulassen, wenn wir nun schon dabei wären,
über Fernsehen zu schreiben. In diesem Zusammenhang büßte
»Sulky«, wie er in dieser Zeit immer noch genannt wurde, langsam
seinen Status ein. Ich stehe auf. »Wir müssen dieses Foto untersuchen
lassen« sage ich. »Ich habe ein paar Kontakte, aber ich
glaube nicht, daß diese Leute besonders viel über Bildmanipulation
wissen. Kennst du nicht jemanden, der was davon versteht?«
Er sitzt immer noch da und und studiert das Foto. Langsam kommt er zu
sich. Er nickt.
»Wieviel kannst du ausgeben?« »Egal was. Es muß
nur so schnell wie möglich gehen. Am liebsten sofort.«
Danke an den DTV-Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |