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"Erschieß die Apfelsine" von Mikael Niemi
Wenn aus Spaß Ernst wird Ein Amoklauf und seine Geschichte Mikael Niemi legt mit „Erschieß die Apfelsine“ einen Pubertätsroman für Erwachsene vor, der zur Pflichtlektüre werden sollte. Auf knapp 236 beklemmenden Seiten führt er uns vor Augen, wie es zur Katastrophe eines Amoklaufs kommen kann. „Populärmusik aus Vittula“ brachte Mikael Niemi den literarischen Durchbruch. Der Pubertätsroman aus Schwedens nördlicher Provinz ist tragisch-traurig, mitreißend und mitfühlend, rockig und rotzfrech, und trotz typischer, norrländischer Melancholie ist der Grundtenor positiv. Mit „Erschieß die Apfelsine“ legt Mikael Niemi nun erneut einen Pubertätsroman vor, der, so suggeriert der Titel, wieder diese heitere Verschrobenheit, die Mikael Niemis Romane und die Bewohner Norrlands zu kennzeichnen scheinen, bietet. Doch weit gefehlt.
Die titelgebende Aufforderung an Niemis 16jährigen Protagonisten droht blutiger Ernst zu werden. Sprichwörtlich in letzter Sekunde kann der namenlos bleibende Ich-Erzähler den Amoklauf seines Kumpels Pålles, eines gemobbten, computerbegeisterten Außenseiters, verhindern. Doch der Reihe nach. Eine Achterbahn der Gefühle oder: Man nennt es Pubertät Auslöser für einen intensiven und ungewöhnlichen Selbsterfahrungstrip des 16jährigen Ich-Erzählers ist die Ablehnung und öffentliche Bloßstellung durch seine heimliche Liebe. Fortan geht er im Putzkittel seiner Mutter zur Schule, verbreitet übers Schwarze Brett anarchistische Gedichte und findet sich dabei neu – als der, der die Pubertät bald hinter sich lässt und mit einem halben Bein schon im Erwachsenenleben steckt. Das Tragen des Putzkittels und später das Ablegen desselben: Es ist wie eine Häutung. Auch verliebt er sich neu. Doch während der Ich-Erzähler gestärkt und als ein der Pubertät entwachsender junger Mann aus der Krise hervorgeht, bewegt sich sein Kumpel Pålle von allen, auch vom Ich-Erzähler, unbemerkt auf den Abgrund zu. Auch als Leser erkennt man nur unwesentlich früher, dass hier ein nicht nur in der Schule gemobbter, sondern auch von den Eltern gequälter Jugendlicher aus seinen Militärspielen im Wald blutigen Ernst macht. Es stellen sich einem die Nackenhaare auf und man fröstelt, denn gerade dass sich die Katastrophe, von der zwar Mitschüler und Lehrer verschont bleiben, nicht aber die Eltern, lange Zeit ankündigt, aber doch von niemanden erkannt wird, ist so erschütternd. Die sprichwörtliche norrländische Verschlossenheit: In dem jungen Pålle, der zum Amokläufer wird, gewinnt sie eine ganz neue, bewegende und bedrückende Sinnhaftigkeit, obwohl der Ort des Schauplatzes ebenso wie der Name des Ich-Erzählers ungenannt und unbestimmt bleibt. Auch dieser stilistische Zug wird zur Stärke, wird doch deutlich, dass sich diese Geschichte überall, an jedem Ort und zu jeder Zeit so ereignen kann.Pflichtlektüre: Niemis „Pubertätsroman für Erwachsene“ „Erschieß die Apfelsine“ ist eine „Pubertätsgeschichte für Erwachsene“, wie Heide Dessel auf www.hallo-langenfeld.de treffsicher formulierte und damit ein erschütternder, eindringlicher Appell an uns Erwachsene, Augen und Ohren offen zu halten, unseren Kindern zuzuhören, sie in ihren Sorgen und Ängsten ernst zu nehmen und vor allem, sie auch als kleine Menschen mit eigenen Gefühlen und Gedanken zu respektieren, denn reale Amokläufe hat es schon zu viele gegeben. Die Erklärungsversuche hinterher schaffen es nie, die Motive, den konkreten Auslöser und die Psyche des Täters wirklich offenzulegen und uns verständlich zu machen. Mikael Niemi aber gelingt dies auf knapp 236 beklemmenden Seiten. Also: Lesen, liebe Erwachsene, lesen!Vielen Dank an Alexandra Hagenguth © November 2011 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien |
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"Der Mann, der starb wie ein Lachs" von Mikael NiemiMord am Meänkieli - Eine Geschichte aus dem anderen Schweden„Der Mann, der starb wie ein Lachs“ handelt vom Mord am Meänkieli, dem im norrbottnischen Tornedal gesprochenen Finnisch. Wie schon in „Populärmusik aus Vittula“ lenkt der aus Pajala stammende Mikael Niemi damit den Blick auf einen oft vergessenen Landstrich Schwedens und seine Menschen. Er spürt mit kriminalistisch sicherem Instinkt nichts geringerem als der Frage nach der eigenen Existenz, der eigenen Identität und Herkunft nach. Alte Schwedenbilder, von Bullerby bis Ystad, geraten dabei mächtig ins Wanken.
Von Bullerby bis Ystad – Schwedenbilder der Deutschen „Pippi Langstrumpf“ erschien 1949 erstmals auf Deutsch. Rund 50 Jahre später, in den späten 1990ern, war es der Schwede Henning Mankell mit seinem Kurt Wallander, der zuerst Deutschland und dann den Rest der Welt literarisch eroberte 2 und den Weg für zahlreiche weitere Krimis „made in Sweden“ bereitete. Wieder sind die schwedischen (und in ihrem Gefolge die gesamten skandinavischen) Kriminalautoren nirgendwo auf der Welt so erfolgreich wie in Deutschland. Pajala und Norrbotten tauchen auf der Landkarte auf Der 1959 in Pajala geborene Schriftsteller Mikael Niemi ist hierzulande vor allem durch seinen skurrilen Kindheits- und Entwicklungsroman „Populärmusik aus Vittula“ bekannt geworden und hat gleichzeitig seine Heimatstadt Pajala, die etwa 100 Kilometer nördlich des Polarkreises, an der schwedisch-finnischen Grenze gelegen ist, zu großer Bekanntheit verholfen und einen weißen Fleck auf Schwedens Landkarte kontrastreich gefüllt (Ganz ehrlich: Wer und wie viele kennen hierzulande Torgny Lindgren und sein literarisches Werk?) Dass dieser Roman wie auch „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ auf Deutsch vorliegen, ist eine der angenehmen Konsequenzen des großen, skandinavischen Krimibooms, denn, wie Mikael Niemi und einige seiner Kollegen und Kolleginnen beweisen, hat die skandinavische Literatur mehr als Krimis zu bieten. Was passiert mit Menschen, denen man ihre Sprache und ihre Identität nimmt? „Der Mann, der starb wie ein Lachs“, das klingt zwar nach Krimi und tatsächlich wird die Stockholmerin Therese Fossnes ins entlegene Pajala an der finnischen Grenze geschickt, um dort den grausamen Mord an dem ehemaligen Lehrer und Zöllner Martin Udde aufzuklären, doch liegt dem Roman eigentlich ein anderes Thema zugrunde: es ist, neben einer nicht unkomplizierten Liebesgeschichte, der Suche nach den Wurzeln und der eigenen Identität, nichts geringeres als der Mord an einer Sprache, so Magnuss Persson treffend in seiner Rezension im Svenska Dagbladet. Mikael Niemis Geschichte eines anderen Schweden Diese Problemstellung macht „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ – gerade für deutsche Leser – zu einer Geschichte aus einem anderen Schweden, einem Schweden, das nichts mit der idyllischen Bullerby-Utopie einer Astrid Lindgren und dem schwedischen Volksheim, dem auch Kurt Wallander nachtrauert, zu tun hat. Es ist wie ein (böses) Erwachen aus diesem Astrid Lindgren-Sommertraum, aber auch Kurt Wallanders Vorstellung von Schweden als solidarisches Volksheim wird als Illusion entlarvt. Selbst als Kurt noch glaubte, es sei existent, war es doch in Wirklichkeit nichts als eine Scheinwahrheit, ein Wunschbild. Nie, zu keiner Zeit, an keinem Ort der Welt, nicht einmal in Schweden, waren wirklich alle Menschen gleich, hatten dieselben Rechte, erfuhren dieselbe Achtung und denselben Respekt. Nichts. Außer Mücken, Meänkieli und Kommunisten – und ein typisch Niemi’scher Mord Aus dieser spezifisch Tornedal’schen Perspektive schöpft Mikael Niemi großes erzählerisches Potential und lenkt die Blicke, nicht nur die seiner schwedischen Landsleute, auf ein anderes Schweden, in dem man schon in der Schule anhand der Schwedenkarte lernt, dass man als Bewohner des Tornedals und Pajalas unterlegen ist, dass es nur einem Zufall und politischer Willkür zu verdanken ist, dass man zu Schweden und nicht zu Finnland gehört, dass man eigentlich nichts ist, weder richtig Schwedisch noch richtig Finnisch kann und dem schwedischen Staat und seinem Volk nichts außer einer Menge Mücken, Flüchen auf Meänkieli (einer armseligen, dürftigen und minderwertigen Sprache) und Kommunisten zu bieten hat (vgl. „Populärmusik aus Vittula“, Kapitel 4).
Was Mikael Niemi in „Populärmusik aus Vittula“ seinen Ich-Erzähler Matti bittersüß und in einer drastischen Bildsprache, die stets zum Lachen wie zum Weinen animiert, aussprechen lässt, findet in „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ seine Entsprechung in eingeschobenen Textpassagen zur Bedeutung der Sprache und in kurzen historischen Exkursen, die lakonisch die geschichtlichen Tatsachen rapportieren, die zur Grenzziehung, wie wir sie heute kennen, geführt haben, aber auch anhand seiner diversen Figuren. Dem Kampf um den Boden folgte der Kampf um die Sprache und die kulturelle Identität. Letzterer ist bis heute nicht zu Ende, wie Mikael Niemi in „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ eindringlich schildert. Dabei bleibt der „Populärmusik“-Autor sich treu und erzählt nie langweilig, nie mit erhobenem Zeigefinger, nie, ohne den Humor und seinen unverwechselbaren Blick für skurrile Momente aus den Augen zu verlieren und nie, ohne zu vergessen, dass er einen Krimi schreibt. So ist „Der Mann, der starb wie ein Lachs“ ein anspruchsvoller (Kriminal-)Roman, der spannend unterhält, zum Nachdenken anregt und mit einem stimmigen Ende überzeugt. Vielen Dank an Alexandra Hagenguth © März 2008 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien
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