Leseprobe
Schließlich gab der Schatten auf, und der Sonnenschein
legte sich mit seiner flirrenden Glut über die Frau. Grashalme
kitzelten ihre nackten Beine, aber sie war zu matt, um sich aufzurichten
und sich zu kratzen. Sie streckte die Arme neben dem Körper aus
und schloss die Augen. Um sie herum lag Stille, eine schwarze, einheitliche
Stille, wie eine Folie, durch die unaufhörlich die scharfen Spitzen
ihrer Sorgen stachen. Schließlich war die Folie zerrissen, und
immer beklemmendere Gedanken traten an ihre Stelle. Die Telefonrechnung.
Die Zahnarztrechnung. Die monatliche Rechnung des Lebensmittelgeschäfts.
Die Rate für den neuen Fernseher. Die auf Pump gekauften Kleider.
Schulden. Rechnungen. Mahnungen. Sie öffnete die Augen. Der Mann
war so leise gekommen, dass sie nichts gehört hatte. Sie schaute
sich nach seinem Wagen um und sah zwischen den Bäumen etwas Blaues
schimmern. Trotz der Hitze trug er einen grauen Anzug und eine Krawatte
mit silbernen Streifen. In einer Hand hielt er einen Aktenkoffer aus
Leder. Sie war sicher, er würde ihr etwas verkaufen wollen. Als
der Mann bemerkte, dass sie ihn ansah, trat er einige Schritte näher.
Mit seinem Bein war etwas nicht in Ordnung, denn er hinkte. Der einzige
Riss in einer ansonsten sehr gepflegten Erscheinung.
»Sie sind Leeni Ruohonen«, stellte er fest, während
die Frau aufstand. Sie war leicht verwundert, machte sich aber nicht
die Mühe zu fragen, woher er ihren Namen kannte. Erst seine folgenden
Worte ließen sie nervös werden.
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»Sie sind vierundzwanzig Jahre alt«, fuhr der Mann fort
und stellte seinen Koffer auf den Boden. Er war untersetzt, aber nicht
dick. Die milchkaffeefarbenen, kurz geschnittenen Haare bildeten einen
Bogen über der Stirn. »Sie haben als Sekretärin im Verkauf
gearbeitet. Seit drei Wochen sind sie arbeitslos.«
Ein scharfes Zucken durchlief ihren Bauch. Wie konnte der Mann so gut
über sie Bescheid wissen, fragte sich Leeni. Er musste sie schon
längere Zeit beobachtet haben. Was wollte er eigentlich von ihr?
Zum ersten Mal löste er seinen Blick von Leeni und richtete ihn
auf das verzierte Holzhaus, dessen Wände dringend eines Anstrichs
bedurften. »Sie wohnen mit Ihrer Tochter in diesem Gebäude
dort, im Gebäude Ihrer Tante«, sagte er. »Ich benutze
nicht das Wort Haus, denn das verdient es nicht.« Der Blick wandte
sich wieder Leeni zu. Die Augen des Mannes standen leicht hervor, und
sie schauten sie an, ohne zu blinzeln. Dadurch hatte Leeni den unangenehmen
Eindruck, der Mann sähe alles. Auch das, was in ihrem Innersten
vorging. War der Mann von der Baubehörde, schoss es ihr in den
Kopf. Wahrscheinlich wollten sie die Tante bedrängen, das Haus
zu renovieren. Am liebsten hätte sie gefragt, aber etwas an seiner
Erscheinung ließ sie zurückscheuen. Der Mann schien ihre
Gedanken zu erraten. »Mein Name ist Forsman«, stellte er
sich vor. »Aber das hat keine Bedeutung, denn wir kennen uns nicht.«
»Was willst du eigentlich?«, fragte Leeni trotzig. Durch
das Duzen versuchte sie die Nervosität zu verbergen, die der Mann
in ihr auslöste.
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, entgegnete er.
»Einen interessanten Vorschlag.«
Dieses Wort rief in Leeni unangenehme Erinnerungen hervor.
»Einen Vorschlag? Was könntest du mir denn vorzuschlagen
haben?«, schnaubte sie. Ihr Ärger ließ sie aufbrausen.
»Ich fang nicht an zu huren oder Drogen zu schmuggeln. Falls es
darum geht, dann ist das Gespräch hiermit beendet.«
»Es handelt sich nicht um solch banale Dinge. Gehen wir hinein,
da lässt es sich angenehmer reden.« Der Mann wies mit der
Hand auf das Haus. Leeni dachte an das ungemachte Bett und das schmutzige
Geschirr.
»Wir können hier reden!«
»Nein.« Auch der Mann verschärfte den Ton. »Wir
können nicht hier stehen wie zwei Statuen, die das ganze Volk begaffen
kann. Wir gehen jetzt hinein.«
Ohne sich um Leenis Protest zu kümmern, hinkte der Mann auf das
Haus zu. Trotz der Hitze war der Rücken seiner Jacke glatt und
trocken. Der Anzug muss aus teurem Stoff sein, dachte Leeni. Vielleicht
aus Seide. Als ihr klar wurde, dass sie den Mann nicht aufhalten konnte,
folgte Leeni ihm ins Haus. Zum Glück war Ami nicht da. Leeni hatte
sie zum Spielen zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft gebracht.
Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und zwei große Zimmer.
Die Küche stand voll mit ungespültem Geschirr, und auf der
Waschmaschine lag ein Haufen schmutziger Wäsche. Das Zimmer, in
das Leeni den Mann führte, war nicht viel ordentlicher. Auf dem
Fußboden waren kreuz und quer Spielsachen verteilt, auf dem Sofa
lagen drei Puppen und ein angebissenes Butterbrot. Vorsichtig, als fasse
er einen Skorpion an, nahm er das Brot vom Sofa und legte es neben einem
Spielzeugtelefon auf den Boden. Die Puppen schob er zur Seite.
»Gibt es hier Ratten?«, fragte er, während er sich
umblickte. »Nein!«, empörte sich Leeni und nahm in
dem alten Plüschsessel Platz, über dessen Rückenlehne
Kleidungsstücke hingen. Auch hier hätte aufgeräumt werden
müssen, dachte sie, als sie das Zimmer plötzlich mit den Augen
des Fremden sah. Aber jetzt war es zu spät. Sie beobachtete, wie
der Mann, der sich Forsman genannt hatte, ein silberfarbenes Seidentuch
aus der Brusttasche zog und auf dem Sofa ausbreitete. Er nahm darauf
Platz und stellte den Aktenkoffer auf dem Boden ab. Einen Moment lang
sagten beide kein Wort. Forsman zog ein schmales Zigarrenetui aus der
Tasche. Nachdem er Leeni vergebens eine Zigarre angeboten hatte, steckte
er sich eine an und begann, sie mit ruhigen Zügen zu rauchen. Die
Stille hielt an, und Leeni wurde unruhig. Schließlich konnte sie
sich nicht mehr beherrschen. »Dürfte ich jetzt endlich erfahren,
worum es geht?«, fragte sie fordernd. Mit hochgezogenen Augenbrauen
wandte Forsman sich ihr zu. »Ich habe gute Nachrichten für
Sie«, erklärte er, wobei er leicht die Lippen verzog, offensichtlich
in der Annahme, so etwas wie ein Lächeln zu erzeugen.
»Was für gute Nachrichten?«
Eine weiße Rauchwolke hüllte den Mann ein. »Geld«,
sagte seine weiche Stimme aus dem Rauch heraus. »Ich bin gekommen,
um mit Ihnen über Geld zu reden.«
Leeni war verblüfft. Das neue, beängstigend faszinierende
Stichwort ließ sie aufhorchen. Trotz ihrer Neugier schwieg sie
jedoch.
Forsman starrte in den zur Decke aufsteigenden und sich ausbreitenden
Rauch. »Wie ich schon sagte, ist eine Verwandte von Ihnen die
Eigentümerin dieser Behausung. Genauer gesagt Ihre Großtante,
die jetzt in einem Altersheim lebt.«
Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |