Leseprobe
Vielleicht geschieht es genau in dem Moment, als er auf den Bürgersteig tritt und der
Verkehrslärm und die schroffe Kälte der Luft ihm wie eine
kompakte Wand entgegenschlagen. Die Situation an sich macht ihn nicht
ratlos, denn er ist es gewohnt, sich auf Tatsachen und Erfahrung, seinen
Instinkt und gesunden Menschenverstand zu verlassen, um im Alltag rasche
und richtige Entscheidungen zu treffen. Dass einem das Leben manchen
Streich spielen konnte, hatte er schon früher erfahren; deshalb
begegnet er dieser Situation mit einer Art professionellem Gleichmut,
jedenfalls am Anfang. Wenn er Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden
- er ist stehen geblieben, festgefroren, wie ein Stillleben -, dann
liegt es an der banalen Tatsache, dass er keine Ahnung hat, in welche
Richtung er gehen soll.
Die Straße ist ihm vollkommen fremd. Er weiß nicht, wo er
ist.
Diese plötzliche Erkenntnis wirkt zunächst abwegig, und seine
erste Reaktion gehört vermutlich zu den ältesten der Menschheit:
er hebt die Hand und kratzt sich am Kopf. Unter normalen Umständen
hätte er die Irritation überwunden, seine Selbstsicherheit
wiedergewonnen und eine Entscheidung getroffen. Aber was waren normale
Umstände? Diese hier auf keinen Fall. Seine Hand senkt sich langsam,
als wundere er sich über die Entdeckung, barhäuptig zu sein.
Er kann sich vage daran erinnern, in einer Kneipe gesessen und Bier
getrunken zu haben, während er auf irgendjemand wartete. Der Betreffende
war ausgeblieben, und schließlich war er aufgestanden und hatte
das Lokal verlassen. Vielleicht lag die Verwirrung bloß daran,
dass er einen falschen Ausgang gewählt und damit auf eine unbekannte
Straße geraten war.
Es bestand kein physisches Hindernis, sich aus dem Bann zu befreien
und auf dem Absatz kehrtzumachen. Die Tür zum Pub liegt nicht einmal
einen Meter von ihm entfernt. Er schiebt sie auf und geht hinein. Wenn
er den Tisch fand, an dem er gesessen hat, würde er auch rekonstruieren
können, warum er hier war und was er im Sinn hatte, als er sein
Glas leerte und das Lokal verließ. Das ist die altbekannte, klassische
Methode, die fast nie fehlschlägt: zum Ausgangspunkt einer Handlung
zurückzukehren, um sich ihr Ziel ins Gedächtnis zu rufen.
Die meisten Männer im Pub tragen dunkle Anzüge, einzelne auch
Jeans und Pullover. Er kann sich an kein Gesicht erinnern, doch er war
wohl zu sehr mit seinem Bier und den eigenen Gedanken beschäftigt
gewesen. In der schummrigen Ecke unter dem ausgeschalteten Fernseher
sitzen dicht beieinander zwei junge Frauen. Unwillkürlich blicken
sie zu ihm auf und schenken ihm ein pflichtschuldiges Lächeln,
bevor sie die Köpfe wieder senken; wie zwei Nonnen, die beim Gebet
gestört worden waren. Auf dem einzigen freien Tisch stehen ein
leeres Bierglas, eine Tasse und ein Aschenbecher. Hier muss er gesessen
haben, obwohl er sich momentan nicht daran erinnern kann. Er lässt
sich auf einem der Stühle nieder und sitzt eine Weile zur Probe,
dreht das Glas und lässt seinen Blick die Theke entlangschweifen,
ist jedoch überzeugt davon, den Barkeeper nie zuvor gesehen zu
haben. Er spürt, dass es in den Mundwinkeln und im linken Augenwinkel
zu zucken beginnt. Auch die anderen Dinge kommen ihm unbekannt vor;
es könnte sich um jeden x-beliebigen Pub handeln. Dennoch muss
er hier gewesen sein. Was für eine lächerliche Situation!
Er steht auf und geht entschlossen hinaus.
Doch der Boden schwankt unter ihm.
Als er bei kühler Witterung wieder auf dem Bürgersteig steht,
dröhnt der Verkehr wie ein metallischer Wasserfall in seinen Ohren;
vor seinen Augen scheinen Quecksilbertropfen hin und her zu rasen. Die
Angst nimmt ernsthaft von ihm Besitz. Es hilft nichts, den Verstand
zu bemühen, denn er kennt kein einziges Haus in dieser Straße.
Nichts hat sich verändert seit vorhin, noch immer hat er keine
Ahnung, wo er sich befindet, geschweige denn, aus welchem Grund er hier
ist. Er geht nach rechts, aufs Geratewohl, entlang einer Häuserfront
mit kleinen Läden. Es muss eine kühle Jahreszeit sein, denn
die Leute sind warm angezogen. Er selbst ebenfalls. Anorak und Schal.
Dunkelbraune, gefütterte Handschuhe. Die Temperatur liegt um null
Grad.
Ganz ruhig. Es ist Winter. Du bist in einen Stadtteil geraten, den du
nicht kennst. Kein Grund zur Verzweiflung. Bald wirst du wiederHerrderLage
sein. Dies ist nur ein momentaner Kurzschluss. Das kann jedem passieren,
wann auch immer, wo auch immer.
Buchtipp |
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Wo auch immer. Hier liegt das einfache, doch unheimliche Problem. An
welchem Ort?
Ort, Hort, Sport, Wort... Am Anfang war das Wort.
Er beginnt nach Wörtern zu suchen und findet rasch eine Antwort
- auf den Schildern, über den Geschäften und in den Schaufenstern.
Alle Wörter, die er liest, sind englisch. Vermutlich befindet er
sich in Großbritannien, auch wenn er weder die Stadt noch den
Anlass kennt, der ihn hierher geführt hat. Plötzlich packt
ihn der Zorn. Diese Behandlung will er sich nicht gefallen lassen. Kaufte
man zum Beispiel eine Ware, die nicht hielt, was sie versprach, hatte
man allen Grund zur Reklamation und konnte bei einer Verbraucherschutzorganisation
eine schriftliche Beschwerde einreichen. Es gab doch schließlich
Grenzen, in welch brenzlige Situationen einen die Gesellschaft bringen
konnte. Ein wohlbegründeter Protest war am Platz!
Im nächsten Augenblick, immer noch erregt, begreift er die Naivität
seiner Überlegungen. Hier nutzte es nichts, auf erprobte Verhaltensmuster
zurückzugreifen; die Situation ließ sich nicht beeinflussen.
Diese Einsicht ist es wohl, die ihn langsam die Kontrolle über
sich verlieren lässt. Seine Füße zittern bereits. Das
Beben breitet sich im ganzen Körper aus, sodass er stehen bleiben
und sich gegen die Mauer stützen muss, um nicht die Balance zu
verlieren. Beinahe muss er sich übergeben, so übel ist ihm.
Komm zu dir. Unterdrück die Angst. Schließ die Augen. Denk
nach.
Er versucht es. Wieder sieht er den Pub vor sich. Vor kurzem hatte er
noch drinnen in der Wärme gesessen und ein Bier getrunken. Er hatte
auf jemand gewartet, eine Person, die nicht zur verabredeten Zeit erschienen
war. Darum hatte er das Lokal verlassen, verärgert. Mit welchem
Ziel?
Er ist einer Ohnmacht nahe, hat Atemprobleme und spürt, wie der
kalte Schweiß durch die Haut dringt und ihn von seiner Umgebung
isoliert. Mit der freien Hand trocknet er sich die Stirn. Versucht sich
zusammenzureißen, damit die Passanten nicht glauben, er lehne
sich gegen die Wand, weil er krank oder betrunken sei. Er hasste es,
unangenehm aufzufallen - und angeglotzt zu werden. Also: er hatte jemand
treffen wollen. Einen Mann? Eine Frau? Ja, eine Frau, dessen ist er
sich ziemlich sicher. War er mit ihr verheiratet? Sie hatte vermutlich
Besorgungen machen wollen, und er hatte dankbar ihren Vorschlag angenommen,
sich auszuruhen und im Pub auf sie zu warten.
Das war immerhin eine Möglichkeit. Er schluckt und die Übelkeit
wird ein wenig schwächer.
Keine Sekunde glaubt er daran, zu träumen oder zu phantasieren.
Träume konnten zwar sehr realistisch sein, waren jedoch immer von
einer gewissen Verfremdung geprägt. Jetzt schien es sich schon
eher um eine virtuelle Realität zu handeln, von der echten Wirklichkeit
kaum zu unterscheiden, nur eine Nanosekunde vom eigenen Pulsschlag abweichend,
ein so unbedeutend verzerrtes Spiegelbild, dass es mit dem Original
praktisch identisch war. Die Erinnerung würde bald zurückkehren.
Es bedurfte nur eines kleinen Rucks und er war wieder der Alte. Hinterher
würden sie über die ganze Geschichte lachen. Vermutlich war
er bloß überarbeitet. Oder das Bier war nicht in Ordnung
gewesen. Er macht ein paar willkürliche Schritte und bleibt vor
dem Schaufenster eines Uhrmachers stehen. Geschieht es schon jetzt?
Er versucht, sich über seine Handlung Rechenschaft abzulegen.
Habe ich angehalten oder bin ich angehalten worden?
Alle ausgestellten Uhren zeigen dieselbe Zeit: 2.33. Seine eigene Armbanduhr
auch.
Vermutlich hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, er und die Frau,
mit der er vielleicht verheiratet war. Während er versucht, sich
daran zu erinnern, was sie gegessen hatten, wird die Übelkeit von
einem unangenehmen, bohrenden Schmerz hinter den Schläfen abgelöst.
Je mehr er sich zu konzentrieren versucht, desto unerträglicher
wird er.
Danke an den Diana Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.