Leseprobe
Erstes Kapitel
Folgen Sie mir zur Sankt-Laurentius-Allee, an einem Sonntag im Mai, gegen
Ende der größten Hitzewelle des Jahrhunderts. Seit drei Tagen
war der Himmel schwer und grau, violett und schwelend. Der Wind trieb
einen Geruch von Erde, Jod und Asche vor sich her.
Aber jetzt ist der See schwarz wie Samt, und die großen, curryfarbenen
Lärchen sind von einer Unruhe befallen, die sich über das
gesamte Viertel ausbreitet.
Folgen Sie mir zu diesem ersten Tag eines sonderbaren Jahres.
Sechs Monate lang haben wir auf genau diesen Augenblick gewartet.
Wir sitzen auf den ausgebleichten Liegestühlen unter der großen
Eiche, die sich auf dem Rasen zwischen dem Zimthaus und dem See befindet:
Ingeborg und Amalie, Max Denholm und ich.
Oben im zweiten Stock ist das Fenster leicht geöffnet. Der Vater
der Mädchen, Direktor Asmussen, ist von seinem Büro in der Bredgade
nach Hause gekommen. Und die Hebamme ist da und die allgegenwärtige
Oda Nielsen, die schon zur Stelle war, als Ingeborg und Amalie geboren
wurden. Der Vater von Max, Dr. Denholm, geht auf dem Kies vor dem Zimthaus
auf und ab und raucht eine Zigarre nach der anderen, während er verstohlen
auf die Uhr blickt und sein Ohr auf das offene Fenster richtet.
Ich lausche dem Wind in den Blättern, die leise rascheln, als würden
sie den Namen des Kindes flüstern. Dieser Baum hat eine gewisse Berühmtheit
erlangt, denn man sagt, er spräche in der Heiligen Nacht zwischen
zwölf und vier. In alter Zeit sammelten sich die Menschen unter seinem
Blätterdach, wo Feldsteine einen Kreis bildeten, einen sogenannten
Thingplatz, an dem sich die Ältesten und Klügsten trafen und
über das Heute und das Morgen, das rätselhafte Leben und den
unausweichlichen Tod sprachen. Daher ist der Baum voller Weisheit. Mit
seinen Tausenden von Blättern lauscht er dem Wind, dem Regen und
dem Nahen des Herbstes, und mit seinen Wurzeln, die sich von Fuglevad
bis nach Frederiksdal erstrecken, nährt er sich aus Quellen, die
kein Brunnen erreicht und die Wasser des Schnees längst vergangener
Zeiten führen.
Ingeborg hat Limonade geholt. Der Stoff der Liegestühle ist alt und
verschlissen und hat dem Gewicht von Max wenig entgegenzusetzen. Die Stühle
wurden während des Ersten Weltkriegs angefertigt, und man sagt, ihre
Farbe passe sich der Stimmung ihrer Benutzer an. Gerade jetzt ist mein
Stuhl blau.
Weit draußen auf dem Badesteg sitzen drei kleine Seeschwalben und
warten auf das Abflauen des Windes. Die Flaggenleine klappert unentschlossen.
Max findet, sein Vater könnte endlich die Geburt einleiten. Aus lauter
Unruhe gehe ich ums Haus herum und auf die Straße.
Ich betrachte den cremefarbenen Kinderwagen, der schon auf der Veranda
bereitsteht, und Otto Nielsen, den man jetzt, nachdem wir trübes
Wetter bekommen haben, zum Fensterputzen verdonnert hat. Sein Großvater
ist gerade damit beschäftigt, den Haupteingang mit Blumengirlanden
zu dekorieren.
"Es wird Regen geben, Elliot", sagt Otto.
Ich antworte ihm nicht und gehe zurück, an den kleinen, scheckigen
Platanen entlang. Das Wetter bleibt unverändert. Wir warten alle,
auch die Platanen, die Liebesbäume genannt werden und gepflanzt wurden,
nachdem die Schwestern auf die Welt kamen.
Buchtipp |
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Ingeborg, die Älteste, hat ihr Haar geflochten1 und es sieht wie
Hanf aus. Sie hat eines der altmodischen Kleider angezogen, die sie von
ihrer Großmutter, genannt Grande, geerbt hat. Obwohl fraglich ist,
ob man damals überhaupt Kleider getragen hat. Max sagt, Grande stamme
aus dem finsteren Mittelalter; unten in der Stadt ist sie als Hexe aus
dem Zimthaus bekannt.
Ingeborgs Kleid ist lang und ein bißchen zerknittert. Aus irgendeinem
Grund knittern alle ihre Kleidungsstücke. Sie sagt, der Stoff habe
dieselbe Farbe wie junge Muskatblüte, also scharlachrot. Vielleicht
ist es die Muskatblütenfarbe, die ihre Haut so weiß erscheinen
läßt. Möglicherweise ist es aber auch der Ernst des Tages.
An den Füßen trägt sie ein Paar goldene Schuhe mit schiefen
Absätzen. Sie sind um einige Nummern zu groß, und wer weiß
- vielleicht hat sich schon Grande mit ihnen durchs Mittelalter geschleppt.
Ingeborg ist nämlich die arme Prinzessin, die im Märchen von
der Erbse bei strömendem Regen an das Tor des Königs klopft.
Sie sitzt gerade an einer Zeichnung, die ein graues Haus mit einem kühlen
Bogengang zeigt, wo ein Gecko an der Mauer klebt und auf die glänzende
Fliege starrt, die über die tropfenförmige Zunge der Echse lacht.
Dunkle Weintrauben hängen in den Fenstern. Man kann gerade noch eine
aufrechte Frauengestalt erahnen, die mit einem Messer und einer Schüssel
voller gelber Zitronen dasitzt, mit deren Saft sie sich die Haut einreibt.
Auch Amalle hat zu Ehren des Kleinen die Kleider gewechselt.
Sie trägt selten etwas anderes als irgendwelche alten Klamotten oder
Cordhosen mit Umschlag. Heute hat sie einen Faltenrock und ein khakifarbenes
Armeehemd an. Der Rock paßt, aber das Hemd ist fünf Nummern
zu groß. An den Füßen trägt sie ein Paar grobe Lederstiefel
ohne Schuhbänder. Es sind keine Militärstiefel, und sie sehen
auch nicht so aus. Amalie beharrt darauf, daß sie aus dem Spanischen
Bürgerkrieg stammen und einem Freiheitskämpfer gehörten,
der für seine Ideale in den Tod ging - mit diesen Stiefeln.
Vielen Dank an den DIANA Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |