Wütend klingelte der Wecker. Amanda Rönn streckte verärgert
den Arm aus. Es gelang ihr, ihn abzustellen, und sie bohrte ihr Gesicht
wieder ins Kissen. Sie würde ihr langes Haar schon noch waschen
können, auch wenn sie etwas länger schlief. Aber der Hunger
auf ein Frühstück trieb sie aus den Federn. Sie wickelte sich
in einen dünnen Bademantel und schlurfte nach draußen, um
die "Sundsvalls-Posten" zu holen, die Axel immer auf ihre
Treppe legte, wenn er seine eigene Zeitung holte. Sie warf einen raschen
Blick auf sein Fenster, aber konnte ihren alten Vermieter hinter den
weißen, durchsichtigen Gardinen nicht entdecken. Axel Strid war
ein guter Freund geworden, seit sie in sein Gartenhaus eingezogen war.
Oft saß er in seiner Küche auf der Bank, trank seinen Morgenkaffee
und winkte Amanda zu. Doch jetzt war nichts von ihm zu sehen.
Amanda breitete die Zeitung vor sich auf dem Küchentisch aus und
begann bei einer Tasse Kaffee und ein paar Käsebroten zu lesen.
Die Reportage über das neueröffnete Kasino Metropol in Sundsvall
füllte die gesamte Titelseite und zwei weitere im Innenteil.
Um ein Haar wären die Redaktionsräume der "Sundsvalls-Posten"
zum Kasino umgebaut worden. Der Chefredakteur, Per-Ludwig Endoff, genannt
Perry, hätte das Haus, in dem sich schon seit vielen Jahren die
Redaktion befand, beinahe verkauft, damit das erste Kasino Schwedens
dort hätte einziehen können. in letzter Minute wurde das altehrwürdige
Hotel Knaust an der Storgatan nach umfassenden Umbauten in Norrlands
Spielhölle verwandelt und im Keller ein großer, neuer Tresor installiert. Das Haus gehörte
den reichen und exzentrischen Brüdern Mann, die auch die Bar und
das Restaurant betrieben.
Amanda war noch nicht dort gewesen. Sie hegte einen ausgeprägten
Widerwillen gegen diesen Tempel des Mammons. Es war eine beunruhigende
Entwicklung, daß die Kommunalpolitiker in Sundsvall das schnelle
Geld willkommen hießen und die Augen davor verschlossen, wie ideologisch
fragwürdig es war, sich mit Glücksspiel abzugeben. Dennoch beschäftigte
sie das Ganze, denn sie war ein neugieriger Mensch. Langsam blätterte
Amanda weiter, bis sie beim Kulturteil angelangt war.
Damals, als frischgebackene Kulturredakteurin der Zeitung, war sie oft
ganz früh aufgewacht und nach draußen gestürzt, um sich
ihre Seite anzuschauen. Inzwischen, nach ein paar Jahren Berufserfahrung,
war sie schon etwas blasiert, aber auch kritischer. Sie las die Artikel
gründlich: eine gelungene Mischung aus einigen Neuerscheinungen,
der kurzen Besprechung einer Theateraufführung und ein paar knappen
Ankündigungen zur großen Kunstmesse Sundsvall Art Fair, die
Ende der Woche eröffnet werden sollte.
Letzteres war auch der Grund dafür, daß Sara, ihre beste
Freundin aus Umeä, an diesem Abend kommen würde. Der Gedanke
machte ihr gute Laune. Amanda sehnte sich nach jemandem, mit dem sie
reden konnte und der sie verstand. Sara und ihr Freund Matts wollten
eine ganze Woche bleiben. Amanda freute sich immer noch darüber,
während sie zur Redaktion radelte, um pünktlich zur Morgenkonferenz
zu kommen. Ihr Haar war feucht, trocknete aber schnell im Fahrtwind.
Vielleicht würde sie zusammen mit Sara und Matts das Kasino besuchen?
Jedenfalls würden sie Sundsvall by night nicht auslassen. Das letzte
Jahr hatte sich Amanda fast ausschließlich in der Arbeit vergraben. Vielleicht fühlte
sie aus diesem Grund manchmal einen gewissen Überdruß.
Ein schriller Schrei brachte sie fast aus dem Gleichgewicht. Beinahe
wäre sie ins Brückengeländer gefahren, doch sie konnte
gerade noch rechtzeitig bremsen. Wer hatte da so schrecklich geschrien?
Unruhig sah sie sich um, aber nirgends schien jemand Hilfe zu brauchen.
Buchtipp |
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Mißtrauisch suchte sie mit den Augen die Ufer der Selångersån
ab. Im Sommer war es hier mehrfach zu versuchten Vergewaltigungen gekommen,
ohne daß es der Polizei gelungen wäre, die Täter zu
fassen. Kein Mensch war zu sehen. Amanda wollte gerade weiterfahren,
da spürte sie hinter sich eine Bewegung. Sie schrie auf und beugte
sich über den Lenker. Eine Möwe kreischte wütend und
stürzte sich Richtung Wasser. Immer wieder griff sie etwas an,
das langsam unter der Brücke entlangtrieb. Amanda atmete auf. Der
Vogel schien aufzugeben und stieg zum Himmel empor. Aber dann war er
wieder da. Wie ein Raubvogel tauchte er ins Wasser ab, doch ihm fehlten
die Kraft und Geschicklichkeit eines Habichts. Er wirkte verletzlich,
verzweifelt und verrückt in seiner unbeholfenen Wut. Amanda betrachtete
ihn erstaunt. Sie versuchte zu erkennen, was seine Aggressionen ausgelöst
hatte. Aber sie sah nur, wie das Wasser unter den Flügeln der Möwe
Wellen schlug. Statt einen erneuten Angriff zu starten, versank die
Möwe immer tiefer im Wasser. Ihr Flügelschlagen wurde schwächer,
bis der Vogel vollkommen still dalag und langsam aufs Meer zu trieb.
Tot.
Danke an den Piper Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.