Leseprobe
1
"Verpiss dich!"
Der junge Bursche mit den langen Haaren, der die Schlange vor dem Laden
anführte, hielt dem dreisten Blick des Mannes, der einen Kopf kleiner,
aber stämmiger als er selbst war, nicht stand. Er trat zur Seite,
und der Stämmige nahm seinen Platz ein. Der Eroberer freute sich
nicht über seinen Sieg, sondern blickte finster auf die geschlossene
Luke.
Raid hielt auf seinem Weg durch den Gang inne und betrachtete die Schlange.
Einige der Wartenden drehten sich zu ihm um, die anderen konzentrierten
sich nur auf sich selbst.
"Wer ist der Drängler?", fragte Raid.
"Happonen
, halte dich von ihm fern", riet ihm der Wärter.
"Sicher."
Der Wärter war ein magerer, rotwangiger Bursche. Seine Uniform saß
schlecht, die Hose beulte über dem Hintern.
Auf dem Gang kamen ihnen zwei weitere Beamte entgegen, zwischen sich führten
sie einen Häftling, aus dessen Handgelenk Blut floss. Der Mann wimmerte
leise.
Raid und sein Begleiter machten Platz, der Wärter wich den Blutflecken
auf dem Fußboden aus.
"Es ist bestimmt schon das zehnte Mal, dass sich der Mann die Pulsadern
aufgeschlitzt hat. Ihm gefällt es im Krankenhaus besser als hier."
Der vorige Zellenbewohner war philosophisch veranlagt, aber sehr bedacht
auf sein Geld gewesen. Über dem Kopfende des Bettes prangte die Inschrift
an der Wand: Kein Rausch ist besser als der Tod, niemand ist zurückgekommen,
um sich zu beklagen. Über dem Fußende stand in derselben
kultivierten Handschrift: Wenn dir nach masturbieren zu Mute ist, denk
an Alli Paasikivi.
Und unter dem Paasikivi-Spruch:
Außenstände
Es folgten etwa zehn verschiedene Posten.
Mika, Kasettenrekorder und Kofferfernseher, zusammen 1110
Pasi, Uhr, 110
Tinde, Kamera, 480
Jussi, Radio, 600
Die Aufzählung endete mit der Mahnung:
Ihr schuldet mir insgesamt 8350 mk.
Die Zelle maß drei mal drei Meter, war aber wesentlich höher.
Die geschwungene Decke und die Höhe ließen sie wie einen Schacht
wirken. An der Decke befand sich ein Rauchmelder, aber seine Batterie
war schon vor Zeiten für andere Zwecke verwendet worden.
Die Wände waren weiß gestrichen, der Fußboden grau. Die
metallverkleidete Tür hatte die Farbe von Preiselbeergrieß.
Es blieb ein Rätsel, unter welchem innenarchitektonischen oder psychologischen
Aspekt die Farbe ausgewählt worden war. Eine mögliche Erklärung
war, dass es sich um preiswerte Restbestände aus der Fabrik gehandelt
und die Farbe dabei keine Rolle gespielt hatte.
In der Tür befand sich der mit einer Metallklappe versehene Spion.
"Du kennst wahrscheinlich die Gepflogenheiten des Hauses", sagte
der Wärter.
"Ich denke schon."
Die Zelle lag im Westflügel des Gefängnisses, im untersten Geschoss
und teilweise unter der Erde. Durch das Gitterfenster sah man das rote
Dach des gegenüberliegenden Hauses und einen Streifen grauer Himmel.
Die Einrichtung war spartanisch: ein im Fußboden verankertes Metallbett,
ein Stuhl und ein kleiner, beinloser Tisch, der an der Wand befestigt
war. An den Wänden hafteten Reste von Klebestreifen, die die Bilder
der Traumfrauen des vorigen Bewohners gehalten hatten. Aus der Anzahl
der Spuren ließ sich erkennen, dass es fünf Traumfrauen gewesen
waren.
Raid lauschte eine Weile, aber die Geräusche der Zivilwelt drangen
nicht bis in die Zelle. Das Gefängnis war ein Ort, aus dem jeglicher
Geschmack normalen Lebens herausgefiltert wurde. Hier schmeckte alles
gleich, irgendwie künstlich, nach Ersatzstoff. Im Gefängnis
wurde gegessen, aber keine Speisen, sondern Gefängniskost, im Gefängnis
gab es Kumpel, aber nur Gefängniskumpel. Wenn man rauskam, vergaß
man sie am besten, sonst wurden sie zu einer ebenso hartnäckigen
Plage wie nigerianischer Tripper.
Die Fußböden und Wände, das Bettzeug, die Häftlingskleidung,
selbst die im Laden erworbene Seife rochen nach Gefängnis. Das Gefängnis
war wie ein stinkender Kühlschrank, in dem alles, was man hineinlegte,
den Geruch annahm.
Irgendjemand hatte einmal gesagt, dass es sogar dann, wenn man die eigene
Frau im Besucherraum des Gefängnisses fickte, anders war, als man
es von zu Hause gewöhnt war. Auch sie hatte sich auf dem Weg vom
Tor infiziert.
Raid war zum vierten Mal im Gefängnis. Er hatte zwei lange und einen
kurzen Aufenthalt hinter sich. Beim letzten hatte man ihn wegen Mangels
an Beweisen freigelassen. Außerdem war er ein halbes Dutzend Mal
verhaftet worden oder in Polizeigewahrsam gekommen. Diese Aufenthalte
zählte er nicht mit.
Das erste Mal in Schweden war am schlimmsten gewesen. Raid erinnerte sich,
wie er buchstäblich sein Gehirn entleeren musste, um auszuhalten,
dass die Wände, die Stahltüren und die Mauern seinen Bewegungsdrang
bremsten. Er schaute, ohne zu sehen, lauschte, ohne zu hören. Er
hätte schreien und toben mögen, beherrschte sich aber gewaltsam.
Noch schlimmer war es, als man ihn wegen Misshandlung eines Mithäftlings,
der sich für den King des Gefängnisses hielt, für zwei
Monate in die Isolierzelle steckte. Er hatte dem Kerl beide Hände
gebrochen. Der gab danach seine Illusionen auf und kehrte wieder auf den
Boden der Tatsachen zurück. Sogar die Wärter feierten Raids
Tat als das positive Ereignis der Woche.
Für den Insassen der Isolierzelle gab es keinen Hofgang, nur ein
paar kurze Schritte auf dem Flur. Das Essen wurde in die Zelle gebracht.
Das ganze Leben spielte sich auf ein paar dunklen Quadratmetern ab.
Eine zusätzliche Erschwernis bei diesem ersten Gefängnisaufenthalt
war noch die Tatsache, dass Raid sich kurz zuvor verliebt hatte. Er schrieb
der Frau, bekam aber keine Antwort.
Zum ersten Mal in seinem Leben dachte er daran, sich umzubringen. Er verbrachte
ganze Tage damit, über Methoden nachzugrübeln, wie man schnell
und schmerzlos sterben konnte.
Er war überzeugt, dass er all das nicht ausgehalten hätte ohne
den finnischen Landsmann, der im Gefängnis arbeitete. Der nahm ihn
unter seine Fittiche, verschaffte ihm kleine Freiheiten, half ihm hier
und da und sah nach ihm. Mit seiner Hilfe kam Raid über das Schlimmste
hinweg.
Der zweite Gefängnisaufenthalt war dann bereits viel leichter und
der dritte schon beinah Routine. Raid hatte inzwischen gelernt, wie man
klarkam. Er wusste, wie man sich in den Rhythmus des Gefängnisses
fügte, wusste um die Bedeutung der alltäglichen Verrichtungen.
Die Träume musste man noch als Embryos töten, vom Zivilleben
nur die unangenehmen Dinge im Gedächtnis behalten.
Auch die ungeschriebenen Gesetze und die Hierarchie des Gefängnisses
verinnerlichte er schnell. Man durfte niemanden verpfeifen, musste zu
den Wärtern Abstand halten, durfte sich nur um seine eigenen Angelegenheiten
kümmern. Obwohl er jung war, erlaubte er niemandem, ihn herumzukommandieren.
Und nachdem er jenem Arschloch die Hände gebrochen hatte, hatte das
auch niemand mehr versucht.
Buchtipp |
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Raid legte seine Habseligkeiten aufs Bett und ordnete sie, so gut es ging.
Außer einigen Kleidungsstücken besaß er nur die Einkäufe
aus dem Laden: ein Paket Nescafé, Orangensaft, eine Packung Kekse,
eine Tube Zahnpasta und eine Zahnbürste.
Als er seine Sachen eingeräumt hatte, ging er in die Teeküche,
um Wasser zu kochen und sich Kaffee zu machen. Es war Nachmittag, und
in der Küche befanden sich außer ihm nur drei Männer,
einer von ihnen fegte den Fußboden.
Die beiden anderen saßen am Fenster und blickten auf den Hof. Einer
war um die dreißig und tätowiert, der andere etwa zwanzig Jahre
älter. Sie hätten Vater und Sohn sein können. Seit Raid
den Raum betreten hatte, hatte keiner der beiden ein Wort gesagt. Jetzt
stand der Jüngere auf und kam zu ihm.
"Verkaufst du mir Nes für eine Tasse?"
"Ich geb einen aus."
Der Mann zögerte, denn Nescafé war im Gefängnis gefragte
Valuta, ebenso wie Zigaretten. Damit konnte man einen Schläger bezahlen
oder den Tod bestellen.
"Kriegt mein Kumpel auch welchen?"
"Bedient euch."
Der Mann schüttete Nescafé in seinen Becher und erhitzte Wasser
in der Mikrowelle. Der andere tat es ihm gleich.
Der Altere betrachtete Raid von der Seite. Sein Augenwinkel musste früher
einmal von einem Schlag getroffen worden sein, und das Narbengewebe zwang
ihn, schräg nach oben zu schielen.
"Sind wir uns schon mal begegnet?" Raid kannte den Mann nicht.
"Bist du in Schweden gewesen?", fragte der weiter.
Raid nickte.
"Dort also."
"Vielleicht."
Der Mann neigte den Kopf, um Raid mit seinem vernarbten Auge genauer betrachten
zu können. Plötzlich blickte er unsicher, dann fast ängstlich.
Er setzte sich wieder zu seinem Freund an den Tisch und sagte nichts mehr.
Der junge Wärter kam den Gang entlang, die schweren Absätze
seiner Dienstschuhe dröhnten auf dem Fußboden. Er blieb vor
Raid stehen.
"Der Direktor will dich sprechen."
Danke an den Grafit Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |