| Kapitel 1 Leseprobe
Draußen vor meinem Fenster liegt der Schnee wie eine alles erstickende 
        Decke. Er sieht weich und schön aus, doch ich weiß, wie kalt 
        er ist. Ansehen, aber nicht anfassen. Betrachten, aber nicht teilnehmen.Herr, ich habe solche Angst. Mehr als je zuvor. Ich suche, aber ich finde 
        nicht mehr.
 Dabei ist Angst kein neues Gefühl für mich.
 Ich glaube sogar, dass ich Pastorin wurde, weil ich so schreckliche Angst 
        vor Menschen habe.
 Angst vor beinahe allem.
 Am allermeisten ängstigt mich die Unbegreiflichkeit des Lebens. Dass 
        womöglich nirgends ein Sinn dahinter steht. Dass alles vielleicht 
        nur Einsamkeit und Leere ist. Sinnlose Illusion. Ich könnte verrückt 
        werden, wenn ich daran denke.
 Schon als Kind haben mich solche Grübeleien hartnäckig verfolgt. 
        Die Gedanken hielten mich abends wach, während die Schatten an den 
        Wänden hochkrochen und immer bedrohlicher wurden. Warum?, dachte 
        ich. Und auf ein Warum folgte sofort ein neues Warum, bis ich am Ende 
        in der festen Gewissheit gefangen war: Eigentlich weiß es niemand.
 Als ich klein war, habe ich nie verstanden, wie die Erwachsenen manche 
        Dinge so leicht abtun können, wie sie mit den Schultern zucken und 
        sagen können, so etwas passiert eben und keiner weiß, warum. 
        Als sei es völlig in Ordnung, Dinge nicht zu verstehen, keine Erklärung 
        zu haben, an die man sich halten kann.
 Grüble nicht so viel darüber nach, Kind, sagte meine Mutter, 
        als mir nicht in den Kopf wollte, wie das Leben so hart, ungerecht und 
        launisch zuschlagen kann.
 Dieses träge Hinnehmen der Unbegreiflichkeit des Lebens ängstigte 
        mich zum Verrücktwerden. Mehr noch als das Böse selbst. Das 
        Böse stellte ich mir als ein Ungeheuer vor, das die meiste Zeit in 
        einem Käfig gefangen ist. Damit konnte ich leben. Aber dass derjenige, 
        der den Käfig bewacht, offenbar keine klaren Regeln kennt, oder dass 
        man sich vielleicht grundsätzlich nicht auf ihn verlassen kann, das 
        war mehr, als ich verkraften konnte.
  Es schneit immer noch. Ich sehe, wie jemand aus der Folkungagata kommend 
        den Hang heraufstapft und in die Erstagata einbiegt, in meine Straße. 
        Es scheint glatt zu sein. Mühsam, sich auf den Beinen zu halten.Für mich war es auch immer mühsam, mich auf den Beinen zu halten.
 Wir sprachen zu Hause nie über Gott oder Jesus. Weder meine Mutter 
        noch mein Vater sind gläubig. Was ich lernte, hatte ich aus der Schule. 
        Ich liebte die Geschichten aus der Bibel, die meine Lehrerin erzählte. 
        Weil sie nämlich eine Bedeutung hatten. Sie ergaben einen Sinn. Eine 
        Ordnung.
 Als ich zehn Jahre alt war, begann ich heftig zu glauben, ohne jemandem 
        davon zu erzählen. Ich zeichnete einen alten Mann mit Flügeln 
        und einem langen Bart. Schnitt ihn aus und trug ihn dauernd mit mir herum.
 Einen Mann aus Papier, zunehmend verknitterter und abgegriffener, den 
        ich Gott nannte. Damals fing ich an, mit dir zu sprechen, Herr. Stumm 
        sagte ich jeden Abend im Bett meine Gebete auf.
 Ich hatte strenge Rituale, wie das vor sich zu gehen hatte. Die Worte 
        mussten nach einem bestimmten Muster gesprochen werden, sonst wären 
        sie wirkungslos gewesen.
 Zeitweise war es richtig anstrengend. Wenn ich besonders große Furcht 
        hatte, dass mir oder dem Rest der Familie etwas
 Schreckliches zustoßen könnte, zwang ich mich dazu, soundso 
        oft das Vaterunser zu beten. An bestimmten Stellen flocht ich persönliche 
        Bitten ein.
 Lieber Gott, mach, dass es keinen Krieg gibt. Vater im Himmel, mach, dass 
        niemand von uns gefoltert wird. Lass Mama ein bisschen fröhlicher 
        sein. Mach, dass sie lacht, wenn Papa sich Mühe gibt, witzig zu sein. 
        Mach, dass Papa ein bisschen witziger ist. Lieber Gott, mach, dass sie 
        sich nicht scheiden lassen.
 Wenn ich unterbrochen wurde, weil ein Flugzeug am Himmel vorbeizog oder 
        ein anderes Geräusch die abendliche Stille störte, musste ich 
        wieder ganz von vorn anfangen. Dachte wohl, dass bisher keiner zugehört 
        hätte. Oft war ich vor Erschöpfung den Tränen nahe, wenn 
        ich endlich fertig war. Im Haus war es dann ganz still geworden.
 Keiner durfte etwas davon wissen. Meine Mutter hätte sich nur Sorgen 
        gemacht. Mein Vater hätte es als Spinnerei abgetan. Mein Bruder hätte 
        mich damit aufgezogen.
 Mein Bruder, der in seinem Bett am anderen Ende des Zimmers lag, atmete 
        tief und sorglos unter seinen Postern mit Fußballhelden und Rockstars.
 Ich war die Einzige, die wachte.
 Ich war die Einzige, die versuchte, das Schlimme von uns fern zu halten.
 Auf eine Art hast du, Herr, mich noch einsamer gemacht, als ich es ohnehin 
        schon war. Auf eine andere Art war ich nicht länger allein mit dem 
        Unbegreiflichen.
 Wie es kam, dass es im Laufe der Jahre nachließ, weiß ich 
        nicht mehr genau. Die Unruhe war weiterhin da, aber ich gewöhnte 
        mich wohl daran, nehme ich an. Versuchte, die Ängste auf Abstand 
        zu halten, anstatt sie zu kontrollieren. Es war wie eine Gnade, dass es 
        mir fast gelang. Ich meisterte mein Dasein, ohne mich allzu anstrengenden 
        Ritualen zu unterwerfen. Es vergingen viele Jahre, die ganze Teenagerzeit 
        ging vorbei, ohne dass ich deine Hand suchte, um mich daran festzuhalten.
 Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem ich beschloss, dich wieder 
        zu suchen. Da war ich bereits eine erwachsene Frau. Hatte das Gymnasium 
        mit guten Zeugnissen hinter mich gebracht. War zu Hause ausgezogen, hatte 
        das verschlafene Avesta verlassen, wo ich aufgewachsen war. Studierte 
        Literaturwissenschaft an der Universität in Stockholm und lebte mein 
        eigenes Leben. War in mein Einzimmerappartement in Söder gezogen, 
        in dem ich heute noch wohne. Hatte Kommilitonen, mit denen ich nach den 
        Vorlesungen im Cafe saß.
 Und ich hatte einen Mann geliebt.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |          Oder glaubte, einen Mann geliebt zu haben.Danke an den Krüger Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Micke und ich gaben uns wirklich Mühe. Keiner von uns hatte eine 
          vernünftige Erklärung dafür, warum wir nicht zusammen das 
          Glück erlebten, von dem wir so viel gehört hatten.
 Wir imitierten die Liebe, sagten das, was von Verliebten erwartet wurde, 
          und kaschierten unsere Verwirrung und Ratlosigkeit, so gut es ging.
 Nachts, wenn die Dunkelheit uns von unseren öffentlichen Rollen befreite, 
          konnten wir durchaus Lust und sinnliche Nähe empfinden. Aber am nächsten 
          Morgen sah ich dann am Frühstückstisch einen Mann vor mir, der 
          sein Müsli in sich hineinschaufelte und sich dabei gleichzeitig auf 
          eine entsetzlich abstoßende Weise räusperte.
 Micke war ein guter Mensch, aber was ich vor allem an ihm wahrnahm, war 
          sein widerliches Räuspern. Unter anderem. Ebenso seine penibel geputzten 
          Schuhe. Dass seine Wangen so schuppig aussahen, wenn er sich rasiert hatte. 
          Dass er vor dem ersten Schluck zwanzigmal in seine Teetasse blies. Ich 
          hätte schreien mögen, dass der Tee doch gar nicht so schrecklich 
          heiß sein könne.
 Es gab noch mehr von diesen störenden Kleinigkeiten. Ich verurteilte 
          mich hart dafür, dass ich mich an ihnen stieß.
 Andererseits phantasierte ich manchmal davon, wie geschmeidig und glatt 
          sich wohl der Rücken eines wildfremden Mannes anfühlen mochte. 
          Oder schlimmer noch - eines Mannes, den ich überhaupt nicht respektierte, 
          den ich nicht mal sympathisch fand. Wie gierig seine Hände über 
          meine Haut glitten und wie sehr es mir gefiele, dass er mich fest und 
          rücksichtslos anpackte. Micke war ja so behutsam. In meiner Phantasie 
          stopfte ich ihm mit wütenden Fingern seine Behutsamkeit in den Hals.
 Das schien mir alles völlig unlogisch zu sein, und es erschreckte 
          mich.
 Ich konnte mich nicht mit Micke abfinden, konnte für ihn nicht fühlen, 
          was ich hätte fühlen sollen. Ich glaube, letztlich haben wir 
          uns getrennt, um nicht länger unsere eigene Einsamkeit in den Augen 
          des anderen sehen zu müssen. Es war nur noch eine Qual.
 Was er dachte und wie er fühlte, weiß ich natürlich nicht 
          mit Sicherheit. Wir sprachen ganz vernünftig über unsere Unreife 
          als Erklärung für unser ausgebliebenes Liebesglück und 
          waren uns überhaupt ganz beflissen einig bei unserer einvernehmlichen 
          Trennung. Lobten und priesen unsere gute Freundschaft, die sich nur noch 
          mehr festigen würde, jetzt, da wir alle romantischen Ambitionen aufgegeben 
          hatten.
 Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich habe seitdem nie wieder etwas 
          von ihm gehört.
 Obwohl es nicht der abgerissene Kontakt war, der mich danach mehr als 
          ein Jahr lang ungeheuer deprimiert sein ließ. Es war eher so, dass 
          mir die Liebe sinnlos und armselig vorkam.
 Ich versuchte mich damit zu trösten, dass die Liebe sicher groß 
          und mächtig gewesen war und dass unsere Beziehung durch unsere eigene 
          Schuld in die Brüche gegangen war. Dass er versagt hatte, dass ich 
          versagt hatte, dass der Fehler allein bei uns lag.
 Obwohl, wenn ich mich umsah, gab es so wenig an Vertrauen und guten Kräften 
          in der Sphäre, in der die Liebe zu Hause sein sollte.
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