Leseprobe
1.
Der frühe Märzmorgen breitete sich fahl
und zögerlich über der Stadt aus wie ein Rekonvaleszent, der
nur notgedrungen das warme Bett verlässt. Auf der Straße
hatte sich die leichte Decke aus in der Nacht gefallenem Schnee durch
die vielen Autoreifen in einen schmierigen Morast verwandelt, der die
Beine der wenigen Fahrradfahrer, die dem Wetter trotzten, mit Matsch
bespritzte, und auf dem Gehweg bewegten sich die Fußgänger
in dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, mit Storchenbeinen an den
Hauswänden entlang. Hier und da waren einige früh aufgestandene
Hausbesitzer oder Hausmeister mit Schneeschiebern beschäftigt und
man hörte den eintönigen Laut von Metall, das auf Stein trifft.
Buchtipp |
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Der Hafen machte keinen sonderlich belebten Eindruck. Ein kalter Wind
füllte die Nasenflügel mit dem unvermeidlichen Geruch nach
Teer, Tauwerk, Öl, Fjord und Industriefisch und rief vage Erinnerungen
an Austern und Bier wach. Auf Deck eines Küstenmotorschiffs tauchte
der Koch auf und goss mit einem Platsch einen Eimer schmutziges Wasser
über die Reling, sodass von den niedrigen eisgrünen Wellen
des Hafens ein bleicher Dunst aufstieg. Etwas weiter entfernt pfiff
eine Rangierlok und sauste fast ausgelassen über die Schienen.
Zwei Vorruheständler, die sich noch nicht daran gewöhnt hatten,
morgens länger zu schlafen, klapperten, die Hände in den Taschen,
auf ihren gummibesohlten Holzschuhen leise die Hafenstraße hinunter,
nachdem sie eine Runde um ihren alten Arbeitsplatz gedreht hatten. Beide
warfen im Vorbeigehen einen Blick auf das leer stehende Haus
und der eine machte eine Bemerkung, die im Geräusch eines vorbeifahrenden
Tankwagens unterging.
In dem grauen Morgenlicht, das den Verfall verschleierte, sah das leer
stehende Haus mit seiner weißen Fassade, den reinen, klassizistischen
Linien und der imposanten Eingangstür fast vornehm aus. Wie ein
Palais aus dem vorigen Jahrhundert, in dem ein wohlhabender Reeder sein
Domizil gehabt hatte und von dem aus er die Ankunft seiner Schiffe im
Hafen hatte beobachten können. In Wirklichkeit war es ein Hotel
gewesen, doch mit Sicherheit eins der vornehmsten der Stadt. Hier, auf
der Sonnenseite des Hafens, spielte die Musik, hier florierte das Vergnügungsleben
und das alte Hotel war das Herzstück all dessen gewesen. Aber dann
hatte die Entwicklung eine andere Wende genommen und das Hotel verlor
erst langsam und dann immer schneller seinen Glanz, um schließlich
von der Gemeinde übernommen und zu Wohnungen umgebaut zu werden.
Und als auch diese nicht mehr den Anforderungen entsprachen, wurden
der Abriss des Gebäudes und die Errichtung eines neuen Wohnblocks
beschlossen. Doch zuerst mussten die Bewohner raus, mussten neue Wohnungen
für sie gefunden werden, was nicht von einem Tag auf den anderen
ging, und als auch der letzte Mieter, eine alte Witwe, sich schließlich
zu sterben entschlossen hatte, um der Gemeinde weitere Mühen zu
ersparen, und das Haus endlich leer stand, war auch die Gemeindekasse
leer und das Bauvorhaben wurde eingestellt. Jetzt stand das Haus einfach
an dem Platz, den ein geschäftstüchtiger Unternehmer einmal
als den besten der Stadt bezeichnet hatte, und verfiel. Den Balkon,
von dem aus Herren mit Kaiser-Wilhelm-Bärten und Damen mit Sonnenschirmen
und hellen Kleidern das Leben im Hafen betrachtet hatten,
schien nur die Erinnerung an die vergangene Pracht aufrecht zu halten;
mehrere Fenster des Gebäudes waren kaputt und bei Tageslicht konnte
man sehen, dass der Putz großflächig abblätterte. Der
letzte Akt war erreicht, die letzte Szene.
In einer der oberen Etagen des Hauses erwachten langsam
dessen illegale Bewohner. Der Tag streckte ein paar graue Hände
hinein und tastete sich vorsichtig an die Stuckornamente der Decke heran,
die die letzten Mieter, ein kreatives junges Paar, rosa und giftgrün
gestrichen hatten, streifte einen Typen mit schwarzen Locken, der versuchte,
einen Ofen in Gang zu bringen, sowie eine kleine Gruppe, die in der
Nähe des Fensters auf dem Boden kampierte. Der Rest des Raums lag
noch im Halbdunkel.
Die Hausbesetzer hatten sich aus strategischen Gründen für
die oberste Etage entschieden. Zum einen war es leichter, sich hier
zu verschanzen, und zum anderen ging man davon aus, dass die Polizei
ihr Tränengas zuerst auf die unteren Etagen richten würde.
Letzteres war eine überflüssige Überlegung, denn es war
fraglich, ob das Tränengas in diesem Raum überhaupt seine
Wirkung entfalten würde. Knapp zwanzig Menschen waren hier zusammengekrochen.
Überall auf dem Boden lagen Matratzen herum, Schlafsäcke in
allen möglichen Farben, mit und ohne Inhalt, Bücher, Zeitungen,
Musikkassetten, Pappbecher, Flaschen mit Stearinkerzen und leere Blechdosen,
die als Aschenbecher benutzt wurden. In einer Ecke standen eine Stereoanlage
und ein Fernseher, unter dem Fenster war ein Gasradiator mit einer Elf-Kilo
Gasflasche aufgestellt worden, zu dem Ofen in der Mitte des Zimmers
führte ein Trampelpfad.
Doch war die Unordnung nichts gegen den Geruch.
Der Gestank in dem Raum war nahezu unerträglich. Ungewaschene Körper,
Petroleum, Friteusenfett, Zigarettenrauch und feuchte Kleidung bildeten
die Hauptbestandteile. Hinzu kam der unverkennbare Geruch nach Fäkalien,
der das ganze Haus zu durchdringen schien. Die Hausbesetzung dauerte
jetzt sechs Wochen.
Ursprünglich war das Haus von ungefähr siebzig jungen Leuten
besetzt worden, die ein Jugendzentrum haben wollten - und das sofort.
Inzwischen hatte sich die Zahl der illegalen Bewohner auf knapp zwanzig
Personen reduziert, die noch immer in dem Abrisshaus ausharrten, in
dem es weder Licht noch Heizung noch Wasser gab. Letzteres hatten die
Besetzer offenbar übersehen oder als unwesentlich abgetan, obwohl
es nicht lange gedauert hatte, bis alle Toiletten des Hauses verstopft
waren. Einige halbherzige Versuche, Wasser zum Nachspülen in Eimern
zu holen, waren im Sande verlaufen, als sich die Aufgabe als nahezu
undurchführbar erwies, sodass man sich letztendlich mit dem Versuch
begnügt hatte, die zu dieser Wohnung gehörende Toilette in
einem halbwegs benutzbaren Zustand zu halten.
Die desertierten Rebellen hatten zumindest einige Vorteile der Zivilisation
schätzen gelernt, die sie bisher als nahezu selbstverständlich
angesehen hatten: fließend warmes und kaltes Wasser sowie eine
Toilette mit Spülung.
Dem Typen mit den schwarzen Locken war es endlich gelungen, dem Ofen
Leben einzuhauchen. Er richtete sich auf und sah zu der Gruppe am Fenster
hinüber.
"Kannst du bitte einen Kessel Wasser holen, Søren?",
fragte er.
"Mach es doch selbst", murmelte Søren mürrisch.
Der Lockenkopf sah von ihm zu dem blonden Mädchen, das neben Søren
saß, und zu dem grünen Bündel, das vor ihnen auf dem
Boden lag. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm den Kessel und ging
hinaus, um ihn mit Wasser aus einer Milchkanne zu füllen, die draußen
stand.
"Jetzt reicht es aber, Søren!" Das blonde Mädchen
sah Søren vorwurfsvoll an, während sie gleichzeitig das
Mädchen in dem grünen Schlafsack tröstend streichelte.
"Es reicht."
Søren wand sich unbehaglich unter ihrem Blick.
"Ist schließlich nicht meine Schuld", murmelte er.
"Wessen Schuld ist es dann, verdammt nochmal?", schrie das
Mädchen.
"Müsst ihr so laut schreien?", klang es aus einem der
anderen Schlafsäcke. "Ihr weckt uns doch alle."
"Es ist Morgen, Lars", sagte der Lockige, der gerade wieder
hereinkam. "Du kannst ruhig aufstehen. Es graut ein neuer Tag."
"Mensch, halt doch die Klappe", sagte Lars, während er
sich aufsetzte und mit fast hellwachen Augen im Zimmer umsah. "Weint
sie, Winie?", fragte er und zeigte auf das grüne Bündel.
"Was geht das dich an?", sagte Winie. Ihr Atem stand im Raum
wie weißer Nebel.
"Was ist los?", fragte Lars unbeeindruckt.
Niemand antwortete ihm.
"Okay, dann ist es eben meine Schuld", räumte Søren
ein. "Aber schließlich habe ich das nicht gewollt, okay?
Ich meine, es funktioniert einfach nicht. Ich war nie länger als
einen Monat mit einem Mädchen zusammen und jetzt läuft das
mit Louise schon seit zwei Monaten. Das ist ein Rekord. Und das in dieser
gottverdammten Höhle hier, wo wir fast schon aufeinander kleben.
Ich halte es einfach nicht mehr aus."
Danke an den Grafit Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |