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Der
Autor Jo Nesbø
Foto: Cato Lein |
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"Ich stamme aus einer schreibenden und erzählenden
Familie. Meine Mutter war Bibliothekarin und mein Vater saß
jeden Nachmittag im Wohnzimmer und las. Und er erzählte.
Lange Geschichten, die wir bereits kannten, aber er erzählte
so, dass wir diese Geschichten gerne immer wieder aufs Neue hörten.
Im Alter von sieben Jahren zog ich "Der Herr der Fliegen"
von Nobelpreisträger William Golding aus dem Bücherregal
und bat meinen Vater, es mir vorzulesen. Nicht in erster Linie,
weil ich einen guten Geschmack gehabt hätte, sondern weil
auf dem Umschlag des Buchs ein blutiger Schweinekopf auf einem
Pfahl abgebildet war. Mein Vater las vor, aber ich war nur mäßig
beeindruckt. Und ich dachte, dass ich das selbst spannender hinbekommen
hätte. Ich hatte nämlich nach und nach begonnen, meinen
Altersgenossen und auch jenen, die ein paar Jahre älter waren,
mit grauenerregenden Gespenstergeschichten zu imponieren, die
ich mit Einfühlungsvermögen und Sinn für delikate
Details zum Besten gab. Obwohl - imponieren ist wohl kaum das
treffende Wort, denn derjenige, der stets am meisten Angst hatte,
war ich selbst.
Doch vor allem spielte ich Fußball. Mit siebzehn spielte
ich in der ersten Liga in Molde und war überzeugt davon,
Profi bei Tottenham zu werden. Also schwänzte ich die Schule
und hockte in einem langen Mantel, den ich im Ausverkauf der Heilsarmee
erstanden hatte, im Café, kaute auf meinen eingezogenen
Wangen herum und unterhielt mich mit Stig und Tor über Dostojewski,
Hemingway und Hamsun, die wir nicht wirklich gelesen hatten, von
denen wir aber eine hohe Meinung hatten, besonders dann, wenn
sich irgendwelche süßen Mädels in Hörweite
befanden. In meiner Freizeit - also dann, wenn ich nicht Fußball
spielte - schrieb ich Texte für ein paar Kumpels, die in
einer Band spielten. Und meine Lehrer am Gymnasium vermittelten
den Eindruck, dass sich ein mystischer Schleier über die
faktische Existenz meiner Person legte. Das Leben war okay. Die
Zensuren gingen zum Teufel, aber was soll's? Ich würde ja
Profi bei Tottenham werden.
Dann rissen in beiden Knien die Kreuzbänder.
Es ist nicht sicher, ob es ein Verlust für Tottenham war,
aber für mich brach eine Welt zusammen. Mir wurde klar, dass
ich auf andere Dinge im Leben setzen musste. Studium und so. Das
Gymnasium war schon fast Vergangenheit, doch als ich die Prüfungsergebnisse
erhielt, dämmerte mir, dass ich nicht die passenden Noten
hatte, um das zu machen, was ich wollte; ein Teil der möglichen
Wege war schlicht und ergreifend versperrt. Der Gedanke, das Schreiben
zum Beruf zu machen, lag genauso fern wie gegen Kamerun im Sturm
zu spielen.
So holte ich tief Luft, fasste den ersten erwachsenen Entschluss
meines Lebens und bewarb mich für den Militärdienst
im nördlichsten Winkel des Landes. Dort mauerte ich mich
ein und grub mich jeden Abend und an jedem Wochenende durch das
Pensum von drei Jahren Gymnasium. Mit dabei auch viel Hamsun und
Hemingway. Bislang hatte ich mich immer auf mein Talent verlassen
und war ansonsten den Weg des geringsten Widerstands gegangen.
Nun aber entdeckte ich eine neue Seite an mir; eine gewisse Selbstdisziplin.
Und als ich dann endlich das Prüfungszeugnis mit Top-Noten
in der Hand hielt, gab mir das ein tiefes, inneres Gefühl
der Zufriedenheit, das ich so noch nie zuvor empfunden hatte.
Denn ich hatte zum ersten Mal etwas gemacht, das mich einen Einsatz
gekostet hatte, etwas, das nicht das übliche Dahinsurfen
gewesen war. Und jetzt konnte ich studieren, was ich wollte. Das
Problem war, ich wusste nicht, was ich wollte. Also begann ich
an der Norwegischen Handelshochschule in Bergen, einer traditionsreichen
Institution mit hohem Prestige, ein Studium, von dem ich dachte,
es sei sicher nicht verkehrt. In Bergen begegneten mir ehrgeizige,
fleißige und angepasste Studenten, aber auch ein Milieu,
in dem Musik, Literatur und Theater eine große Rolle spielten
- vermutlich, weil das Studium so trocken und schrecklich langweilig
war.
Eines Tages kam in der Mensa ein Typ auf mich zu, weil jemand
behauptet hatte, ich spiele Gitarre. Das stimmte nicht ganz, ich
beherrschte drei Griffe, die mir meine Kumpels von der Band in
Molde beigebracht hatten. Doch ich widersprach ihm nicht, da er
nach Leuten für eine Band Ausschau hielt. Also wurde ich
Gitarrist bei "De Tusen Hjem" (dt. "Tausend Zuhause"),
durfte mir eine E-Gitarre leihen und brachte den Bassisten dazu,
mir einige Griffe zu zeigen. "De Tusen Hjem" spielten
industriellen Heavy Metal-Lärm. Nicht die Sorte strukturierten,
intelligenten Heavy Metal, sondern die Art, die entsteht, wenn
man richtig schlecht spielt, genug Strom und große Verstärker
hat und in einem Keller übt. Es klang höllisch, und
die Sänger hörten einer nach dem anderen auf. Am Ende
blieben nur wir Instrumentalisten, und ich wurde ans Mikrophon
gescheucht. Die Texte der Coverversionen, die wir spielten, waren
meiner Ansicht nach nicht gerade der Hit, und ich fand, wir könnten
statt der Aneinanderreihung zorniger Akkorde ebenso gut Melodien
spielen. Also fing ich an, Musik zu schreiben. Unserer lokalen
Berühmtheit in den nordöstlichen Teilen von Bergen zum
Trotz, erlangte "De Tusen Hjem" nie die Weltherrschaft,
gab allerdings eine Single heraus, die häufig im Lokalradio
und mindestens einmal im Landesradio gespielt wurde und von der
25 Exemplare verkauft wurden. Als ich mein Studium abgeschlossen
hatte, war ich nicht nur Betriebswirt. Ich fing allmählich
an zu verstehen, was es eigentlich bedeutete, Poptexte zu schreiben.
Ich ging nach Oslo und zog mit einer Frau zusammen,
begann in der Finanzbranche zu arbeiten und schrieb Musik. Eines
Abends hörte ein junger Jazzbassist, den ich aus Molde kannte,
einige der Melodien. Am folgenden Tag gründeten wir eine
Band. Wir hatten keine Aufträge, aber eines Abends nahmen
wir unsere Instrumente mit in die Kneipe, in der wir häufig
waren, taten so, als hätten wir eine Absprache mit dem Besitzer,
der an dem Abend nicht anwesend war, und begannen zu spielen,
ohne dass uns jemand aufhielt. Eine Woche später riefen sie
uns an und fragten, ob wir ein ordentliches Engagement haben wollten.
Jede Woche hatte unsere Band einen anderen Namen ("Nasse
og Nedfallsfruktene", dt. "Nasse und das Fallobst";
"Pigs In Space"; "Joachim og Barnehagebrannen",
dt. "J. und der Kindergartenbrand" usw.), doch man sprach
von uns als "die Jungs da von letzter Woche" und damit
hatten wir schließlich den Namen "Di derre" (dt.
"die da"). Ein Jahr später gingen wir auf unsere
erste Tournee. Zwei Jahre später hatten wir einen Plattenvertrag.
Wir gaben ein Album heraus, das freundlich aufgenommen wurde,
sich aber bescheiden verkaufte. Doch die Leute kamen in unsere
Konzerte, nicht nur in Oslo. Etwas war im Gange, und als unser
zweites Album 1994 erschien, begann es zunächst vorsichtig,
dann schneller in der Hitparade nach oben zu klettern, bis es
auf einmal abhob und für viele Jahre zum meistverkauften
Album Norwegens wurde. Die Konzerte waren binnen Stunden ausverkauft.
Und wir waren plötzlich Popstars.
Das Bemerkenswerte am Popstarsein ist, dass es sich schnell anfühlt
wie eine kleine "Antiklimax". Ich weiß nicht,
welche Erwartungen ich hatte, vielleicht gar nicht so viele, denn
ich wollte eigentlich nur Spaß haben und nicht so verdammt
berühmt werden. Weil unser erstes Album mindestens genauso
gut war wie das zweite, ohne nur annähernd den gleichen Verkaufserfolg
zu haben, fühlte sich der Durchbruch eher wie ein Zufall
an und nicht wie eine wirklich hervorragende Leistung. Auf der
anderen Seite, ich weiß ja auch nicht ...
Was ich inzwischen wusste, war, dass ich nicht als Vollzeitmusiker
herumreisen wollte. Andere Bands, die ihr Hobby zum Beruf gemacht
hatten, lehrten mich, dass diese Art zu arbeiten zu viele Kompromisse
forderte, sowohl in der Musik als auch im restlichen Leben. So
hielt ich an meinem Job als Börsenmakler fest, während
wir spielten. Zusätzlich studierte ich nebenbei noch Finanzanalyse,
und als ich von DnB Markets, Norwegens größtem Aktienmakler,
abgeworben wurde, um deren Optionsabteilung aufzubauen, musste
ich mich auf zwei Jahre verpflichten. Ich hatte mit anderen Worten
... viel zu tun. Im Laufe eines Jahres traten wir 180 mal im ganzen
Land auf und mein Leben sah folgendermaßen aus: bis Börsenschluss
im Büro sitzen, mit der Tasche auf dem Rücken raushetzen
und ein Taxi zum Flugplatz nehmen, zum Auftrittsort fliegen, wohin
der Rest der Band im Tourneebus gelangt war, Soundcheck, Essen,
eine Stunde Schlaf, bis gegen Mitternacht spielen und dann zurück
ins Hotel, während der Rest der Band feiern ging. Mit der
ersten Maschine am Morgen zurück nach Oslo, so dass ich beim
Börsenopening da war, arbeiten bis Börsenschluss, raushetzen
und ein Taxi zum Flugplatz erwischen ...
Nach einem Jahr war ich so erschöpft, dass ich alles und
alle hasste, mit denen ich beruflich zu tun hatte, mich selbst
eingeschlossen. Ich sprach mit der Band und mit meinem Chef, ich
wollte ein halbes Jahr frei nehmen. Man war einverstanden, und
so setzte ich mich in ein Flugzeug, das mich so weit wie nur möglich
fort bringen würde, nach Australien. Einen PC nahm ich trotzdem
mit. Eine Mitarbeiterin eines Verlags hatte sich mit der Frage
an mich gewandt, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch zu
schreiben, eine Reiseschilderung über das Leben unterwegs
mit "Di derre". Im darauffolgenden Denkprozess ging
mir vieles auf: Ich war bereit, den Sprung zu wagen vom Song-Texten
und von kurzen Erzählungen zu dem, woran ich eigentlich seit
meiner Kindheit gedacht hatte - nämlich einen Roman zu schreiben.
Es war in Wirklichkeit gar kein Sprung, es ging nur darum anzufangen.
Nein, es würde kein Reisebericht werden, weil es etwas mit
einem Schweinekopf auf einem Pfahl sein musste, eine Erzählung
über etwas, von dem Aksel Sandemose behauptete, es sei das
Einzige, worüber zu schreiben sich lohne: Liebe und Mord.
Buchtipp |
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Vor meiner Abreise machte ich ein paar Versuche, die ich in einem
frühen Stadium verwarf, weil sie nicht gut genug waren. Dann
flog ich nach Sydney. Der Flug Oslo-Sydney dauert rund dreißig
Stunden. Und in diesen dreißig Stunden dachte ich mir einen
Plot aus, und begann sofort nach meiner Ankunft in dem Hotel,
das ich von Oslo aus gebucht hatte, mit dem Schreiben. Es war
mitten in der Nacht, ich hatte Jetlag, und ich schrieb über
einen Typen, den ich Harry Hole nannte. Er landete auf dem Flughafen
von Sydney, checkte in demselben Hotel ein und hatte Jetlag ...
Fünf Wochen lang folgten Harry und ich einander dicht auf
den Fersen. Von Sydney nach Nimbin, von einem Zirkuszelt zu einem
Striptease-Club, vom Aquarium zu Dragshows und hoch in 10.000
Meter Höhe über Newcastle, wo ich einen Fallschirmkurs
machte, alles, um mit Harry Schritt zu halten. Als ich aus Australien
zurückkam, hatte ich fast ein komplettes Buch geschrieben.
Kaum hatte ich den Koffer daheim abgestellt, machte ich schon
weiter, ein weiteres Mal mit Jetlag. Nach zwei Wochen war ich
fertig, und hinter mir lag ein intensives, alles vereinnahmendes
Erlebnis, während dessen sich alles um das Buch drehte, ich
kaum Kontakt zu anderen Menschen hatte, nur schrieb und schrieb
und durch Unterbrechungen wie Hunger oder Müdigkeit irritiert
war. Es waren die besten Wochen meines Lebens.
Ich schickte das Manuskript an denselben Verlag, der mich um den
Reisebericht gebeten hatte. Allerdings unter einem Pseudonym,
um sicherzustellen, dass der Verlag nicht in Versuchung kam, womöglich
ein Scheißbuch von einem Popstar herauszugeben: Kim Erik
Lokker, ein Unsinnsname, den ich von einem meiner schuleschwänzenden
Kumpels aus der Kaffeestube entlieh. Kimer-i-klokker (dt. "Glockenläuten").
Mit der Abgabe des Manuskripts ging auch meine Freistellung von
der Arbeit zu Ende. Ich kreuzte wieder im Büro auf, schaltete
den PC ein, und während der Bildschirm langsam zum Leben
erwachte und ich Ölpreise, Dollarkurs und Dow Jones erkannte,
ging es mir auf: Dass ich fast alles hatte. Eine Wohnung, abbezahlte
Schulden, einen überbezahlten Job und eine gute Band. Das
einzige, was mir fehlte, war Zeit. Mein Vater war ein Jahr zuvor
gestorben, im gleichen Jahr, in dem er pensioniert worden war
und er das Buch schreiben wollte, für das er Notizen gesammelt
hatte; das Buch über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.
Aber die Zeit war ihm davon gelaufen. Und ich konnte nicht zulassen,
dass mir dasselbe geschah. Noch bevor der Bildschirm ganz da war,
stand ich im Büro meines Chefs und erklärte ihm, dass
ich nicht mehr die Zeit hätte, bei ihm zu arbeiten.
In den folgenden drei Wochen lief ich rastlos umher und fragte
mich, worauf ich aus war. Ich wollte nicht nur spielen und spielen.
Ich konnte aufwachen und mich fragen, was um alles in der Welt
das für eine Entscheidung war, die ich da getroffen hatte.
Aber es war meiner, ich hatte etwas sehr Wichtiges für mich
entschieden. Oder etwa nicht? Und inmitten dieser Zweifel klingelte
eines Vormittags das Telefon und ich wurde gefragt, ob Kim Erik
Lokker am Apparat sei. Ich war zunächst verwirrt, da ich
die Sache mit dem Manuskript beinahe vergessen hatte. Denn der
Prozess des Schreibens hatte an einem ganz anderen Ort, in einem
ganz anderen Zustand stattgefunden, und in Gedanken wälzte
ich andere Schreibprojekte. Ich bekam einen knappen Bescheid,
dass man aus dem Manuskript gerne ein Buch machen wolle.
Nachdem ich aufgelegt hatte und mir die Bedeutung dieses Anrufs
klar geworden war, lief ich nach draußen, bestieg mein Fahrrad
und fuhr drauf los. Und als ich auf dem Rathausplatz angekommen
war, machte ich meiner Freude zum Vergnügen der fliegenden
Möwen und der perplexen Touristen in einem lauten Schrei
Luft.
"Also ist Kim Erik Lokker ein Pseudonym?" sagten sie,
als ich zum ersten Treffen im Verlag erschien.
"Ja, weil ich nicht ganz ... äh, unbekannt bin."
"Oh? Wie heißen Sie denn?"
Ich sagte es ihnen, aber niemand zeigte eine Reaktion. Da räusperte
ich mich und erklärte, dass ich der Sänger einer bekannten
Band sei. Noch immer keine Reaktion. Also nannte ich den Namen
der Gruppe. Zwei der Anwesenden nickten beifällig und einer
fing an, einen Song zu summen. Den einer anderen Band.
Im Herbst 1997 erschien "Der Fledermausmann" unter meinem
Namen, und ich wartete mit gemischten Gefühlen darauf, dass
die Kritiker den Poptypen verrissen, der es wagte, einen Krimi
zu schreiben! Aber es sollte sich zeigen, dass ich derjenige war,
der voreingenommen war. Die Buchbesprechungen waren sachlich,
seriös und befassten sich mit dem Buch, nicht mit meiner
Person. Und das allerbeste war: Das Buch kam an. Ich war im siebten
Himmel. Nicht in erster Linie, weil einige Rezensenten das Werk
gemocht hatten, sondern weil so viele Menschen das Buch erwarben,
dass der Verlag ein weiteres haben wollte. Jetzt konnte ich mich
einfach aufs Schreiben konzentrieren.
Im Winter 1998 fuhr ich nach Bangkok, mit einer Skizze zu dem,
was "Die Kakerlaken" (erscheint im Herbst 2006 erstmals
auf Deutsch) werden sollte. Auf einem Fest in Oslo hatte ein Bekannter
mich eingeladen, in seinem gediegenen Apartment in Bangkok zu
wohnen, das Norsk Hydro für ihn gemietet hatte. Beim Verlassen
des Flugzeugs war es, als würde mir ein warmes, nasses und
schmutziges Handtuch ins Gesicht geschleudert: heiß, feucht
und dreckig. Und der Lärm! Ich wusste, dass das nicht funktionieren
konnte; ich sollte zwei Monate an diesem Ort verbringen und hatte
schon nach einer Minute einen klaustrophobischen Anfall. Zwei
Wochen später war ich verliebt in die Stadt, hörte den
Lärm nicht mehr, liebte den Schweiß und war der Auffassung,
dass Luft einen Geruch, Geschmack und Farbe haben musste. Und
wieder folgte ich Harrys Fußstapfen - oder er den meinen
- nach Chinatown, auf die Schiffe am Chao Phraya-Fluss, in die
Go-Go-Bars in Patpong.
"Die Kakerlaken" habe ich in einer brodelnden Stadt,
in einer einschneidenden Phase und sehr konzentriert geschrieben,
dennoch war es kein so intensives Erlebnis wie bei "Der Fledermausmann".
Ich sah ein, dass ich das Schreiben vielleicht niemals wieder
so erleben würde wie beim ersten Mal, weil es nur ein erstes
Mal gibt. Andererseits entdeckte ich, wieviel ich durch das erste
Buch gelernt hatte, dass ich handwerklich besser geworden war
und plötzlich ein paar Sachen über Dramaturgie wusste.
Gleichzeitig hatte ich einen gewissen Druck. Denn nun wusste ich,
dass ich schreiben wollte. Gleichzeitig konnte ich nicht davon
ausgehen, nach "Die Kakerlaken" selbstverständlich
weitere Bücher zu veröffentlichen. "Der Fledermausmann"
war gut angekommen und hatte sich zufriedenstellend verkauft,
ich wusste jedoch aus der Plattenbranche, dass das Gedächtnis
des Publikums nicht das beste ist. Sollte "Die Kakerlaken"
ein Flop werden, dann konnte ich wieder von vorne anfangen. Ich
musste wieder etwas Gutes zustandebringen!
Nach meiner Rückkehr aus Bangkok rief der Verlag an und teilte
mir mit, dass "Der Fledermausmann" als bester norwegischer
Kriminalroman 1997 den Rivertonpreis erhalten hatte. Natürlich
war ich darüber erfreut, aber auch ein bisschen skeptisch.
Es war doch so leicht gewesen! "Der Fledermausmann"
war ein körperlicher und mentaler Trip gewesen, war in so
kurzer Zeit geschrieben worden, dass ich das Gefühl hatte,
schwindeln und ein paar Monate auf die sieben Wochen aufschlagen
zu müssen, als der Verlag mich zum ersten Mal fragte, wie
lange ich dafür gebraucht hatte. Also zählte ich nach,
wie viele norwegische Kriminalromane in dem Jahr herausgekommen
waren, zog die Autoren ab, die den Preis bereits erhalten hatten,
denn ich wusste, dass man ihn nur einmal bekommen konnte. Dann
zog ich die Romane ab, die in den Besprechungen schlecht weggekommen
waren, und so fand ich heraus, dass ich den Preis nach einer Art
Ausschlussprinzip bekommen haben musste.
Einen Monat später erhielt ich den Bescheid, dass "Der
Fledermausmann" auch den "Glassnøkkel" (dt.
"der Glasschlüssel") als bester skandinavischer
Kriminalroman bekommen sollte. Vielleicht sollte ich das Grübeln
besser lassen und die Gunst der Stunde nutzen. Es war ja wenig
wahrscheinlich, dass ich so etwas noch einmal erleben würde.
Als ich die Überschrift im Dagbladet zu "Die Kakerlaken"
las, dachte ich, dass genau das richtig war. Ich hatte meinen
ersten Verriss in der Hand. Als die Leute vom Verlag etwas später
anriefen und mir zu der Kritik in der Zeitung gratulierten, hörte
ich nicht richtig zu, denn ich wusste, das Dagbladet hatte Recht;
nach "Der Fledermausmann" war das Buch eine Enttäuschung.
Es half nicht, dass andere Zeitungen freundlich reagierten. Als
ich die Nachricht erhielt, "Die Kakerlaken" sei als
Haupttitel im Buchklub Nye bøker - einem Nadelöhr
auf dem Weg zur kommerziellen und literarischen Elite in Norwegen
- angenommen worden, da wusste ich, dass mich eigentlich der Vorläufer,
"Der Fledermausmann", qualifiziert hatte. Ich setzte
mich hin und versuchte herauszufinden, welche Fehler ich gemacht
hatte. Ich schrieb besser, ich wusste mehr über Dramaturgie
und mit Harry Hole hatte ich eine interessante Hauptfigur. Dass
"Der Fledermausmann" so leicht zu schreiben gewesen
war, hatte mich glauben gemacht, Schreiben sei grundsätzlich
einfach und stilisierte Szenen und Effekte könnten die Verankerung
der Handlung im menschlichen Gefühlsleben ersetzen. Nun hatte
ich Vorbilder, unter anderem mein Erstlingswerk. Ich hatte versucht,
einen "Kriminalroman" zu schreiben. Ich hatte die für
dieses Genre scheinbar geltenden Regeln zu ernst genommen. Insgesamt
zu viel Hirn und zu wenig Herz.
Dann setzte ich mich hin und begann, "Rotkehlchen" zu
schreiben. Den Roman, den eigentlich mein Vater hätte schreiben
sollen. Über die Norweger, die während des Zweiten Weltkriegs
gegen die Nationalsozialisten, und die, die für sie gewesen
waren. Über die Selbstverklärung eines Volkes vereint
im aktiven Widerstand gegen Hitler. Darüber, wie Menschen
sich für eine Seite entscheiden, und über das Recht
des Siegers, Geschichte zu schreiben. Es war das erste Buch, in
dem ich die Haupthandlung nach Oslo verlegte. Dann führte
ich den Prinzen als Gegenspieler ein und mit ihm das große
Komplott innerhalb der Polizei, das Harry über mehrere Bücher
hinweg begleiten sollte. Außerdem ist dieser Krimi das erste
Buch mit wechselnder "Kameraperspektive". Der Leser
sieht nicht ausschließlich alles mit Harrys Augen. Ich führte
verschiedene Stimmen ein und beschrieb unterschiedliche Weltbilder,
während die Geschichte gleichzeitig räumlich und zeitlich
komplexer wurde. Ich arbeitete Bücher, Artikel und Werke
zur Geschichte durch und interviewte Frontsoldaten und Leute aus
dem Widerstand. Die Ergebnisse all dieser Recherchen mussten angepasst
und überprüft werden. Wenn man das Schreiben der ersten
beiden Bücher damit vergleicht, alleine Gitarre zu spielen,
dann galt es jetzt, ein Symphonieorchester zu dirigieren. Gleichzeitig
ging vieles beim Schreiben leicht von der Hand, denn das meiste,
was ich über die Front bei Leningrad und das Krankenhaus
in Wien schrieb, entsprach den Tatsachen; es war nicht die Kunst,
die das Leben imitierte, sondern ein so umfassendes Abbild der
Wirklichkeit wie möglich. Es ging weniger darum, einen guten
Roman zu schreiben, als darum, eine gute Geschichte nicht kaputt
zu machen. Schon ehe ich "Rotkehlchen" begann, wusste
ich, dass ich den kostbaren historischen Stoff verwenden musste,
von dem ich spürte, dass er meiner war und zwar ausschließlich
meiner. Ich wusste, die vorangegangenen Bücher waren in vielerlei
Hinsicht Fingerübungen dafür gewesen, das Handwerk gut
genug zu beherrschen, um auf den kostbaren Marmorblock nun mit
Hammer und Meißel loszugehen.
Es war Himmel und Hölle gleichzeitig. Als ich mit dem Schreiben
fertig war, wusste ich, wenn dieses Buch verrissen würde
oder ich nicht damit durchkäme, dann würde ich aufhören
und einen neuen Weg einschlagen müssen. Denn "Rotkehlchen"
war schlicht und ergreifend das Beste, was ich hatte. Nach Erscheinen
des Buches und der positiven Resonanz war ich vor allem erleichtert.
Der Verlag war begeistert, die Rezensenten waren begeistert, das
Publikum war begeistert und das Buch erhielt den Buchhändlerpreis
2000 als bester Roman.
Nun kann man selbstverständlich einwenden, dass Absatz, Rezensionen
und Preise nicht die einzigen Kriterien sind, die einen künstlerischen
Erfolg definieren. Das ist sicher richtig, doch die anderen sind
schwieriger auszumachen. Und wenn es dein Anliegen ist, für
Menschen zu schreiben, und einige Leute unaufgefordert behaupten,
dass sie einen Gewinn aus der Lektüre gezogen haben, musst
du die Arme triumphierend nach oben reißen und es einfach
annehmen. Ich jedenfalls tat das.
"Die Fährte", erschienen 2002, spielt fast ausschließlich
in Oslo, genauer gesagt in der Straße, in der ich lebte.
Und noch genauer gesagt in dem Mietshaus, in dem ich wohnte. Der
Roman beginnt mit einem Banküberfall, bei dem der Räuber
droht, eine Bankangestellte zu erschießen, wenn sie nicht
innerhalb von fünfundzwanzig Sekunden den Safe öffnet.
Er beginnt zu zählen. Der Räuber hält der Überwachungskamera
sechs Finger entgegen. Die Frau hat sechs Sekunden zu lang gebraucht.
Er schießt ihr in den Kopf, schnappt sich das Geld und macht
sich davon. Dann wird Harry durch den Mord an einer weiteren Frau
persönlich in den Fall hineingezogen, denn mit dem Opfer
hatte er mehrere Jahre zuvor eine Liebesbeziehung. Und der Kampf
zwischen Harry und seinem Gegenspieler, dem Kollegen Tom Waaler,
geht weiter. "Die Fährte" ähnelt "Rotkehlchen"
in Aufbau und Erzähltechnik weitaus mehr als den ersten Harry-Hole-Büchern.
Der Roman wurde gut aufgenommen und erhielt den William Nygaard-Preis.
Ich begann mit dem nächsten Buch über Harry Hole, noch
bevor "Die Fährte" erschienen war. "Das fünfte
Zeichen" knüpft da an, wo "Die Fährte"
geendet hatte: Der Schauplatz ist Oslo während einer Hitzewelle
im Juli und der Widerpart zu Hole ist erneut Tom Waaler. "Das
fünfte Zeichen" schildert den für uns Skandinavier
seltenen Fall eines Serienmörders. Es geht in der Beschreibung
von Oslo weiter als die anderen Bücher, außerdem werden
indirekt Teile von Waalers persönlichem Hintergrund skizziert.
Dennoch bleibt dieser ein Rätsel. Der Konflikt zwischen Harry
Hole und Tom Waaler - einer Person, die Harry in vielerlei Hinsicht
sehr ähnlich ist und dessen eigene Psyche ein moralisches
Dilemma widerspiegelt - legt es nahe, "Rotkehlchen",
"Die Fährte" und "Das fünfte Zeichen"
als Oslo-Trilogie anzusehen."
Ich war hochgradig aufgeregt, als ich Der Erlöser abschloss, und es erstaunte mich nicht
wenig, bei diesem Buch auf so viel Widerstand beim Verlag zu stoßen, wie bei keinem
anderen zuvor. Ich hatte den Roman bereits um fast 100 Seiten gekürzt und straffte ihn noch
weiter, wobei mir die neue Version derart zurechtgestutzt und auf den Strunk reduziert
vorkam, dass ich befürchtete, den Roman umgebracht zu haben. Vielleicht belastete es mich,
dass wir nach dem Erfolg von Das fünfte Zeichen meinten, von allen Seiten würden ständig
steigende Erwartungen an uns herangetragen. Dazu kam, dass Das Rotkehlchen vom
Norwegischen Rundfunk NRK und den Buchclubs zum besten norwegischen Krimi aller
Zeiten gekürt worden war, so dass mit einem Mal ein tiefer Fall möglich war. Aufregung und
böse Vorahnungen begleiteten deshalb die Veröffentlichung von Der Erlöser im Herbst 2005.
Die Rezensenten fielen geradezu über das Buch her und brachen alle Rekorde: die erste Kritik
erschien bereits einen Tag nach dem Erscheinen. Es war ein Samstag und mein Verleger rief
mich an, um mich zu warnen. In der Zeitung Dagsavisen war eine sehr verhaltene Rezension veröffentlicht worden. Für gewöhnlich ist ein Verriss ein Omen für weitere. Ich hatte also das
Wochenende, um mich für das zu wappnen, was noch kommen würde. Als ich mich am
Montagmorgen im Spiegel betrachtete, wusste ich, dass fünf Tage mit Interviews vor mir
lagen und ich bis Freitag fünf Jahre älter aussehen würde. Doch als sich der Staub gelegt
hatte, war das Fazit klar: die schlechte Kritik im Dagsavisen war die einzige geblieben und
die anderen waren - mit einem Wort – überwältigend. Auch die Reaktion der Öffentlichkeit
ließ nicht auf sich warten. Mein Verleger rief mich an und berichtete mir, Der Erlöser sei in
der Geschichte des Verlags der Roman mit dem schnellsten Abverkauf (heute hat er beim
Aschehoug-Verlag die höchsten Verkaufszahlen überhaupt erreicht). Fünf Tage waren
vergangen und man durfte das Buch – in Ermangelung treffenderer und umfassenderer Worte – bereits einen fantastischen Erfolg nennen. Ich erinnere mich noch daran, mir damals selbst
versprochen zu haben, diesen Augenblick ohne das schlechte Gewissen oder die Paranoia zu
genießen, die extrem schöne Frauen mitunter befällt, und sie glauben lässt, nur aus Gründen
geliebt zu werden, die sie eigentlich selbst verachten.
Das Jahr 2006 verbrachte ich mit dem Schreiben einiger Songtexte für De Derre’s letztes und ‚Best of’-Album sowie unserer Abschiedstournee, die zu einer emotionalen Begegnung mit
einem großen treuen Publikum wurde. Dabei entdeckte ich jedoch etwas Neues: Ich war im
Bewusstsein der Menschen kein Musiker mehr, der Bücher schrieb, sondern ein Autor, der in
einer Band spielte.
Als ich mich an das nächste Harry-Hole-Buch Schneemann setzte, bemerkte ich, dass die
Dinge mit einem Mal im Ausland passierten. Immer häufiger rief mich mein Agent an und in
der Post waren mehr und mehr Angebote aus Ländern, die weiter und weiter von Norwegen
entfernt lagen. Während ich dies hier schreibe, im Frühjahr 2007, sind meine Harry-Hole-Romane in mehr als 20 Sprachen übersetzt – dabei ist es für mich noch immer ein Kick, wenn
ein Buch mit der Post kommt und das einzige, was ich davon lesen kann, mein eigener Name
auf dem Titel ist.
Im Juni 2007 kam Schneemann heraus. Es war geradezu unerhört, dieses Buch mitten im
Sommer herauszubringen, noch dazu, da im Bücherland Norwegen eine Art stille Übereinkunft besteht, dass Titel, die sich vermutlich gut verkaufen, im Herbst erscheinen.
Und dann auch noch „Schneemann“, war das unser Ernst? Oh ja, das war es!
Ein paar Zeilen über den Anfang des Buches: Es ist November in Oslo und der erste Schnee
ist gefallen. Birte Becker kommt von der Arbeit nach Hause und lobt den Schneemann, den
ihr Mann und ihr Sohn im Garten gebaut haben. Die beiden haben aber gar keinen
Schneemann gebaut. Als die Familie durch das Wohnzimmerfenster staunend den
Schneemann betrachtet, bemerkt der Sohn, dass dessen Gesicht dem Haus zugewandt ist. Die
schwarzen Augen sind auf das Fenster gerichtet. Starren sie an.
Hauptkommissar Harry Hole erhält einen anonymen Brief, der mit Der Schneemann
unterzeichnet ist. Etwas später findet er einen alarmierenden roten Faden in alten Akten über
vermisste Personen. Verheiratete Frauen werden am Tag des ersten Schnees als vermisst
gemeldet. In genau dieser Nacht kämpft sich Sylvia Ottersen in einem Wald bei Oslo durch
den ersten Schnee. Sie weiß, dass sie um ihr Leben rennt, aber sie weiß nicht, wovor sie flieht.
Genauso wenig, wie sie weiß, was vor ihr liegt. Zum Glück.
Wieder waren die Rezensionen positiv und Schneemann sollte der Roman mit dem
schnellsten Abverkauf in Norwegens Geschichte werden.
Und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich so etwas wie einen Sommerurlaub. Er sollte
nicht sehr lange dauern.
Schon seit vielen Jahren schwirren Ideen zu einem Kinderbuch in meinem Kopf herum. Es
fing damit an, dass meine Tochter mich wie immer darum gebeten hatte, während des Essens
eine Geschichte zu erzählen. Also erfand ich Nilli – einen kleinen rothaarigen Zehnjährigen
mit einer Elvis-Tolle, ein Sprücheklopfer, der einem Gebrauchtwagenhändler alle Ehre
gemacht hätte; seine Nachbarin und Freundin Lise; zwei dicke unangenehme Zwillinge mit
einem Hummer-fahrenden Vater und einen halbverrückten Professor, der durch Zufall das
wirksamste Pfurzpulver der Welt erfunden hat. Auf meine Bitte hin fragte der Verlag Per
Dybvig persönlich, ob er Lust hätte, die Illustrationen zu der Geschichte zu machen – und er
sagte zu! Als wir uns schließlich bei meinem Verleger trafen und er mir seine ersten
Zeichnungen zeigte, platzte ich vor lauter Aufregung heraus, dass ich mir die Lehrerin
Fräulein Strobe genau so vorgestellt hätte! Es wurde still im Raum. Schließlich hüstelte Per
und sagte, es sei eine Zeichnung von Professor Doctor Proctor. Es wurde stiller als still,
während ich meinen Kopf schräg legte, genauer hinsah und sagte: „Jetzt, wo ich darüber
nachdenke – genau so habe ich mir auch Doctor Proctor vorgestellt.“ Alle lachten. Das
Seltsame daran war, dass ich es wirklich ernst meinte.
Doctor Proctors Pfurzpulver erschien im Oktober und ich war neugierig, was die Kritiker
darüber schreiben würden. Immerhin war das ein Erstlingswerk, das sie zerreißen konnten.
Meine Sorgen stellten sich als völlig unbegründet heraus. Das Buch wurde mit einstimmiger
Begeisterung angenommen. Doctor Proctor wurde für den ARK Kinderbuchpreis 2007
nominiert und die Verkaufszahlen hoben ab, vermutlich unterstützt durch eine Talkshow, in
der ich auftrat und für die Mr. Methan eingeflogen wurde: ein langer, dünner Mann in grünem
Superman-Outfit. Er löscht die Kerzen auf Geburtstagskuchen und singt Lieder mit seinen
lauten Blähungen. Ein Viertel der norwegischen Bevölkerung, ich eingeschlossen, lachte
Tränen.
Im November 2007 veröffentlichte ich eine längere Kurzgeschichte mit dem Titel Das Weiße
Hotel. Die Erlöse aus dem Verkauf gingen komplett an das Projekt „Redd Barna“ [Rettet die
Kinder]. Ich höre Sie schon gähnen, weil sie bestimmt von mir erwarten, dass ich Ihnen jetzt
sage, wie außerordentlich brillant die Kritiken darüber ausfielen. Nun, es gab nur eine einzige
Rezension. Der Kritiker mochte das Projekt, aber keineswegs den Beitrag des Autors. Ich las
die Kritik zweimal und ich muss zu meinem Bedauern einräumen, dass darin einige
berechtigte Punkte waren.
Doch 2007 war ein fantastisches Jahr für mich. Ich erhielt zum zweiten Mal den Preis des
Buchhandels, dieses Mal für Schneemann. Während ich dies schreibe, ist er auf der
norwegischen Bestsellerliste, während sich Der Erlöser seit zwei Jahren auf der Liste der
Paperbacks hält. Außerdem haben es Harry-Hole-Bücher auch im Ausland auf die Listen
geschafft. Was macht man also, wenn alles so prima läuft? Genau – man beginnt mit etwas
ganz Neuem, damit man wieder das Gefühl hat, ein Risiko einzugehen, und dafür eine neue
Welt entdecken zu müssen. Dabei ist mir bewusst, dass die Angst vor dem Versagen den
Genuss eines möglichen Erfolgs nur steigert. Dieses Mal ist es die Geschichte eines Head-Hunters in einer Agentur. Er benutzt das Neun-Stufen-Modell des FBI für
Bewerbungsgespräche und ist mit einer Frau verheiratet, die viel zu schön ist für seinen
Geldbeutel. Also hilft er seinen Finanzen mit Kunstdiebstählen auf die Sprünge. Eines Tages
kommt ein Holländer zum Bewerbungsgespräch, der – wie sich herausstellt - ein vermisstes
Rubens-Meisterwerk zu Hause an der Wand hängen hat…
Ich bin auf dem Sprung nach Asien, um daran zu arbeiten. Aber ich werde auch mit einem
neuen Harry Hole beschäftigt sein. Zu ihm komme ich immer wieder zurück. Es ist schwierig,
das Wichtigste an diesem Protagonisten so vieler meiner Bücher mit wenigen Worten
zusammenzufassen, aber es gibt ein paar Charakterzüge an ihm, die für mich beim Schreiben
wichtig sind: Er ist der Typ Mensch, der gleichermaßen von seinen lichten und seinen dunkleren Seiten getrieben wird. Er glaubt an seine Rolle als Verfechter von Gesetz und
Ordnung – bezweifelt sie gleichzeitig aber auch. Wenn ihn seine Gefühle gepackt haben,
können sie seinen Glauben an einen durch das Gesetz geregelten Staat überrollen. Er stellt
seine Nachforschungen mit solchem Hass an und kämpft so mühsam darum, seinen
Rachedurst in den Griff zu bekommen, dass er bisweilen in Verwirrung über seine Gegner
gerät. Dann wieder hat er plötzlich Mitgefühl oder gar Sympathie mit dem Gesetzesbrecher.
Harry Hole ist ein Held mit offensichtlichen Schwächen. Alle interessanten Helden haben
eine Achillesferse. In Harrys Fall ist das der Alkohol.
Uns geht es vielleicht wie der Frau, die durch den Schnee stolpert. Möglicherweise ist es
unser Glück, nicht zu wissen, was uns hinter der nächsten Ecke erwartet. Ich bin auf alle Fälle
froh darüber, dass ich es nicht weiß. Aber ich weiß, was mit Harry passiert. Und davon
möchte ich Ihnen erzählen…
Jo Nesbø über ,,Leopard:
In ,,Leopard" geht es sehr stark um Harry Holes Beziehungen, vor allem die zu seinem Vater,
der sterbend im Krankenhaus liegt und zu dem er bis jetzt keine richtige Bindung hatte.
Es geht aber auch um einen internen Krieg der Polizei und die Frage, welche Abteilung in
Zukunft mit den Ermittlungen bei Mordfallen beauftragt wird. Die Lösung des aktuellen Falls
ist dafür entscheidend und wird deswegen zu einem Wettkampf zwischen den rivalisierenden
Abteilungen. Harry, der eigentlich nicht der Typ ist, der sich irgendjemand gegenüber
verpflichtet fühlt, und der bei der Polizei immer ein Einzelgänger war, steht vor der Frage, ob
er sich seiner Abteilung gegenüber loyal verhalten soll und zu ihrem Erhalt beitragen. Wir
werden sehen, wie er sich entscheidet.
Dieses Buch erzählt mehr über Harry als irgendeiner der früheren Bände. Meine
Aufmerksamkeit galt vorrangig dem Plot, und ich habe immer darauf geachtet nicht zu viel
Privates über meine Hauptfiguren zu schreiben. In ,,Leopard" musste ich mehr von Harry
preisgeben, weil er sich beruflich und privat an einem Punkt befindet, der Veränderungen und
wichtige Entscheidungen von ihm verlangt. Wem ich die Geschichte in ein paar Jahren noch
mal lese, werde ich vermutlich feststellen, dass sie sehr viel mit meinem eigenen Leben zu tun
hat. Irn Moment denke ich allerdings, es geht nur um Harry.
Autor: Jo Nesbø
© Ullstein Buchverlage - Januar 2010 - Vielen Dank für die Veröffentlichungserlaubnis |