Leseprobe
KAPITEL 1
Der Mann ging am Pålsund-Kanal entlang und sah
leicht fröstelnd auf das dunkle Wasser hinunter. Er fühlte
sich unruhig, die Ereignisse der letzten Zeit gefielen ihm gar nicht.
Allmählich befürchtete er einen Fehler begangen zu haben.
Aber jetzt war es zu spät, um etwas daran zu ändern. Später,
wenn die ganze Sache überstanden war, konnte er darüber nachdenken.
Auf jeden Fall hatte er sich an seinen Teil des Abkommens gehalten.
Niemand konnte Gegenteiliges behaupten. Dennoch fiel es ihm schwer,
das unbehagliche Gefühl in der Magengegend zu ignorieren. Er warf
einen Blick zurück, sah aber nur das Taxi, mit dem er gekommen
war. Es hatte auf der anderen Seite des natürlichen Wasserweges
gehalten, der die Insel Långholmen vom übrigen Stockholm
trennte, und parkte an der Uferstraße Söder Mälarstrand.
Der Fahrer saß im Wagen, zählte sein Geld und hatte die Taxileuchte
noch nicht auf »frei« gestellt. Es regnete unaufhörlich,
ein dünner, kalter Nieselregen. Seit mehreren Tagen regnete es
ohne Unterbrechung, so dass die Ufer des Kanals schlammig waren und
das Röhrichtgestrüpp schmutzigbraun über das Wasser hing.
An den Stegen lagen noch immer Boote, die an Land geholt werden mussten.
Er konnte nicht verstehen, dass die Leute bis zur letzten Minute damit
warteten, anstatt sofort nach Saisonschluss alles Nötige zu erledigen.
Wie es aussah, konnte der Kanal jeden Moment zufrieren, und dann war
es zu spät. Der Mann steckte die Hände tief in die Taschen
und ging an einem schön gearbeiteten Boot vorbei, Eichenholz mit
weißem Verdeck. Der Eigner hatte es noch nicht einmal für
nötig befunden, die Sitzkissen von den Seitenbänken im Heck
zu nehmen.Wie konnte man ein Boot so sträflich vernachlässigen?
Er hatte fast Lust, an Bord zu steigen und eines der Sitzkissen mitzunehmen.
Nur um dem Bootsbesitzer zu zeigen, wie fahrlässig es war, sein
Eigentum draußen herumliegen zu lassen.Aber er ging weiter und
zog den Gürtel seines Mantels enger. Es war schnell Abend geworden,
und der Sprühregen hüllte den Kanal in einen bläulichen
Nebel, der ihn erbärmlich frieren ließ. Er sah auf die Uhr.
Es war kurz nach neun, und trotz der recht frühen Stunde war kein
Mensch in der Nähe. Die großen Weidenbäume, die sich
zum Wassersaum hinabneigten, und die dürftige Straßenbeleuchtung
trugen wohl ihren Teil dazu bei. Der Kanalhafen war nicht gerade die
Gegend, wo junge Damen ihren Hund Gassi führten.Aber er hatte keine
Wahl.Hier war der abgesprochene Treffpunkt, und wenn er nicht auftauchte,
dann würde auch sein Geld nicht auftauchen. Er bewegte sich von
der Brücke fort Richtung Heleneborgs Bootsclub. Schräg über
ihm erhob sich die imposante Stahlwölbung der Västerbrücke
als dunkler Bogen gegen den gelblichen Himmel. Der Treffpunkt sollte
am Kai 22 sein. Ein motorgetriebenes Boot im Pettersson-Stil lag dort
vertäut, aus Mahagoniholz und sehr gepflegt. Als er sich dem Anlegeplatz
näherte, sah er, dass in der Kajüte Licht brannte. Er blieb
stehen und versuchte durch das Fenster ins Innere zu schauen, konnte
aber nur einen Rücken sehen. Auf seinen Zuruf bekam er keine Antwort,
also ging er auf den Bootssteg, rief noch einmal und stieg dann vorsichtig
auf die Schiffsreling und hinunter auf die Seitenbank. Das Boot schwankte
ein wenig, und die Person in der Kajüte wandte den Kopf und löschte
sofort das Licht. Es wurde stockfinster.Vom Deck aus konnte der Mann
nur mit Mühe die Gestalt in der Kajüte ausmachen, die wahrscheinlich
einen Schreck bekommen hatte, als er das Boot betrat. Er wollte gerade
sagen: »Ich bin es nur«, als ihn ein harter Gegenstand über
dem Auge traf. Zuerst glaubte er, dass er ausgerutscht sei, denn der
Holzboden kam mit Hochgeschwindigkeit auf ihn zu, und für einen
Moment wirkte es, als seien es die Planken, die mitten in seinem Gesicht
gelandet waren. Doch gerade als er sich auf alle viere aufrichten und
hochschauen wollte, sah er das Metallrohr herabsausen. Er hatte nicht
einmal Zeit zu erklären, dass man ihn mit jemand verwechselt haben
musste, bevor ihn die Stange am Kopf traf und ihm für alle Zeiten
jede Möglichkeit des Protestes nahm. Die traurige Wahrheit ist:
Erklärungen sind nur etwas für die Lebenden.
KAPITEL 2
Kommissar Axel Hake stand in der Küche und lehnte sich auf seinen
Gehstock. Er hatte breite Schultern, kurz geschnittenes Haar und trug
zu seiner Jeans eine Anzugjacke aus grobem Tweed.
»Also, kommst du jetzt?«
Er schaute zu seiner Schwester Julia hinüber, die vor einem Spiegel
stand und Ordnung in ihr strubbeliges Haar zu bringen versuchte. Im
Gegensatz zu ihrem Bruder sah sie nicht besonders gut aus, aber sie
hatte schöne, ironisch funkelnde Augen. Sie selbst fand, dass ihr
Gesicht einer Kinderzeichung mit falschen Proportionen glich. Die Nase
war knubbelig, die Lippen etwas zu breit, die Wangen rundlich wie ein
aufgegangener Kuchenteig. Allerdings bekümmerte so etwas Julia
Hake wenig, denn ihre große Passion war das Leben als Veterinärin
im Forstgebiet Tullinge, und an Männern hatte es ihr nie gemangelt.
Gut aussehende Männer. Mit anderen gab sie sich nicht ab.
»Manche Frauen mögen humorvolle Männer, mächtige
Männer oder hochkultivierte Männer. Ich mag meine Männer
schön. Mehr ist nicht dabei«, hatte sie einmal leichthin
erklärt. Aber heute hatte Hake das Gefühl, dass etwas nicht
stimmte. Sie hatte sogar einen alten Lippenstift hervorgekramt, den
sie sich auf den Mund schmierte, und grimassierte vor dem Spiegel. Das
Rot sah aus wie eine blutende Wunde.
»Ich muss Siri in einer Stunde vom Hort abholen,
also solltest du dich ein bisschen beeilen«, sagte er und wiegte
sich auf seinem Stock. Er war mit einigen Kartons Rotwein zu seiner
Schwester hinübergefahren. Diesen Gefallen tat er Julia hin und
wieder, vor allem um zu sehen, wie es ihr draußen in ihrer Einsiedlerklause
ging. Das Haus lag einsam mitten in einem großen, dunklen Fichtenwald,
kein idealer Wohnort für eine alleinstehende Frau, wie er fand.
Aber seine Schwester zeigte sich nie beunruhigt. Ganz im Gegenteil.
Sie fühlte sich am sichersten, wenn nicht allzu viele Menschen
in der Nähe waren. Etwas geistesabwesend hatte sie die Weinkartons
entgegengenommen, auf dem Herd abgesetzt, war eine Weile wirr im Haus
herumgerannt und hatte Axel Hake überredet, sie mit seinem Auto
ein paar Kilometer zu kutschieren. Ihr Landrover hatte einen Platten,
und sie hatte keine Zeit, ihn zu reparieren. Sie wechselte mehrmals
ihre Garderobe, nur um schließlich ihre alte Jeansjacke anzuziehen.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie sich noch nie so oft im Spiegel
betrachtet. Schließlich war sie ausgehfertig, warf einen wirklich
allerletzten Blick in den Spiegel, sank ein bisschen in sich zusammen
und ging aus dem Haus. Axel Hake folgte ihr mit hinkenden Schritten.
Er war nicht gerade ein Invalide, aber er hatte eine Kugel ins Knie
bekommen und einen bleibenden Schaden zurückbehalten nach
einer medizinischen Behandlung, die nach Hakes Meinung an Misshandlung
grenzte.
»Der Schal!«, rief Julia und lief zurück ins Haus.
Hake seufzte und hinkte weiter zu seinem alten, rostigen Citroën.
Er setzte sich auf die Motorhaube und ließ seine Blicke umherschweifen.
Julia Hakes Tierarztpraxis sah ein bisschen baufällig aus. Das
große Wohngebäude war zwar in gutem Zustand, doch die alte
Scheune und die Weidezäune um das Gehege machten einen Eindruck
von
nicht gerade Vernachlässigung, aber zumindest einem Mangel
an Pflege. Julias Erklärung war, dass Tiere keine ästhetischen
Präferenzen hätten und dass die Arztpraxis, die vor allem
kranke Pferde, Hunde und Kleintiere versorgte, ihre Funktion mehr als
erfüllte. Die Tür wurde wieder geöffnet, und Julia kam
heraus. Sie trug über ihrer Jeansjacke ein farbenfrohes Tuch um
den Hals. Kurz vor Hake blieb sie stehen und blickte ihn direkt an.
Die seegrasfarbenen Augen blitzten.
»Na«, fragte sie, »bin ich so okay?« »Du
triffst dich doch nur mit so einem Typen aus einer Veganerkommune, richtig?«
»Bin ich okay?«, wiederholte sie scharf. Axel Hake nickte.
Sie sah mehr als »okay« aus. Aber er war dennoch beunruhigt.
Solange er sich zurückerinnern konnte, hatte sie schöne, charakterlose
Männer nach Hause geschleppt
und sie wie Luft behandelt.
Das hatte Julia auf gewisse Weise noch interessanter gemacht, denn ihre
Liebhaber waren eine solche Gleichgültigkeit nicht gewohnt. Es
hatte genug Krach und Streit gegeben, und mehr als einmal hatte Hake
dazwischen gehen müssen. Aber er hatte dennoch immer das Gefühl
gehabt, dass sie am Ende ohne seelische Kratzer davonkommen würde.
Diesmal sah es jedoch so aus, als sei die große Liebe über
Julia hereingebrochen. Sie wirkte unsicher und war noch launischer als
gewöhnlich. Sie grämte sich darüber, dass sie vielleicht
schon zu alt war, um Kinder zu bekommen. Der Mann, dem sie ihr Herz
geschenkt hatte, war eigentlich noch ein halber Junge: gerade über
zwanzig, von russischer Abstammung und Mitglied einer Veganerkommune,
die tatsächlich tiefer im Wald lag als die Tierarztpraxis. Hake
kannte ihn bisher nicht und hatte von Julia nur aufschnappen können,
dass er blond war und einen glatten, unbehaarten Körper besaß.
Als er nach dem Charakter des Jungen fragte, hatte sie ihn verständnislos
angesehen und gefragt, was das mit der Sache zu tun haben sollte. Lieber
Himmel, der Russe sah schließlich aus wie ein griechischer Gott
Buchtipp |
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Marianne de Vrie saß in ihrem schicken, historisch wertvollen
Haus auf der Insel Långholmen mitten in Stockholm
und versuchte sich auf den Reiseführer zu konzentrieren, an dem
sie gerade arbeitete. Sie hatte eine Reihe gut geschriebener, faktengespickter
Bücher herausgegeben, die von einem treuen Leserkreis gekauft wurden.
Jetzt befand sie sich allerdings in einer peinlichen Klemme, denn sie
litt mit einem Mal unter einer Schreibblockade, und die Worte kamen
nicht so, wie sie sollten. Eine Freundin hatte ihr den Rat gegeben,
sich nicht zu überanstrengen, sondern im Internet nach Beschreibungen
der Orte zu suchen, über die sie berichten wollte. Das hatte Marianne
als unmoralisch abgelehnt. Aber nach einem halben Jahr geistiger Dürre
hatte sie sich doch ins Netz begeben und vor kurzem eine französische
Reisereportage aufgestöbert, die sicherlich kein schwedischer Leser
jemals zu Gesicht bekommen würde. Sie hatte den Tag damit verbracht,
den Text zu übersetzen, der vom Besuch eines Vogelmarktes in Marrakesch
handelte. »Vögel, die im Wüstensand baden« würde
sie ihn nennen und für das erste Kapitel ihres Buches benutzen.
Aber nach dieser Kopierarbeit fühlte sie sich nervös und unruhig,
schämte sich ein bisschen und beschloss, auf einen langen, beruhigenden
Spaziergang zu gehen. Marianne blickte auf die herbstliche Landschaft,
Laubbäume in brennenden Farben, während sie den Skutskepparvägen
entlang wanderte.Mit jedem Schritt fühlte sie, wie die Anspannung
nachließ, wie die Schuldgefühle sich aufzulösen begannen.
Dennoch warf sie unruhige Blicke in alle Richtungen, sie hatte das Gefühl,
als würde ihr jemand über die Schulter schauen. Ein Unsichtbarer
stand hinter ihr und ermahnte sie, ihr Publikum nicht hinters Licht
zu führen. Sie ging schneller, um das Gefühl loszuwerden,
was sich jedoch als Fehler erwies. Schnell war sie so ausgepumpt, dass
sie sich am Lattenzaun neben dem Pålsund-Kanal abstützen
musste. Zum Wasser hin stand ein Holztor offen, und dahinter liefen
Bootstege am Wasser entlang. Sie legte stets Wert darauf, Haltung zu
bewahren, niemand sollte sie sehen, während sie nach Atem keuchte.
Also trat sie auf den Steg hinaus und schaute seufzend auf die Wellenmuster
hinunter. Zuerst glaubte sie, jemand habe sich hinter sie gestellt,
um sich im Kanal zu spiegeln. Gleich unter der Wasseroberfläche
stand ein Mann in einem Mantel und starrte sie mit leeren Augen an.
Erst als sie das schwerelos treibende Haar sah, die milchweißen
Augenhöhlen und das entstellte Gesicht, verstand sie, dass es ein
Toter war, der dort mehr oder weniger aufrecht im Wasser stand. Zuerst
konnte sie nicht begreifen, wie diese Haltung möglich war, doch
dann sah sie die Metallkette um sein Bein, die ihn an Ort und Stelle
hielt. Und gleich darauf hallte ihr Schrei über den Kanal, fing
sich in der gewaltigen Wölbung der Västerbrücke und wurde
zu einem Echo, das scheinbar kein Ende mehr nahm. Die Veganerkommune
lag auf einer Lichtung, umgeben von idyllisch rauschendem Fichtenwald.
Als Haupthaus diente eine große, gelb gestrichene Jugendstilvilla
mit drei Etagen. Das typische schwedische »Bellmann-Gelb«,
wie Hake irgendwann gelesen hatte. Ein Farbton, mit dem man mehrere
Jahrhunderte lang die eleganteren schwedischen Häuser und Gebäude
gestrichen hatte.Neben der Villa befanden sich ein paar Schuppen und
davor ein grauer VW-Bus. Als er auf den Wendeplatz einschwenkte, fiel
sein Blick auf einen älteren Mann, der ihnen entgegenging. Er war
um die fünfzig, hatte ein hageres Gesicht, breite buschige Augenbrauen
und kastanienbraunes Haar. Hake hatte sich unter dem Leiter der Kommune
eine Art Guru-Gestalt vorgestellt, aber dieser Mann ähnelte eher
einem Freizeitjäger als einem Philosophen. Julia winkte ihm zu,
und der Mann nickte kurz.
»Wie geht es Elina?«, fragte Julia, als sie beide aus dem
Citroën gestiegen waren. Der Mann musterte Hake und seinen Gehstock
mit einem wachsamen Blick, bevor sich seine Augen auf Julia hefteten.
»Ich glaube, das Fieber hat nachgelassen, aber du solltest sie
dir besser mal ansehen.« Julia hatte erzählt, dass die Hündin
der Kommune ernsthaft krank geworden war, nachdem sie Junge bekommen
hatte. Als Ärztin hatte sie es übernommen, sich um das Tier
zu kümmern. Auf diese Weise hatte sie auch ihren neuesten Bettgespielen
kennen gelernt.
»Ist Juri da?« Der Mann machte eine Kopfbewegung zum Hauseingang.
»Er hält Wache am Krankenbett.« Julia begann förmlich
zu strahlen, öffnete den Kofferraum und holte ihre medizinische
Ausrüstung heraus.
»Also, ich gehe dann wohl rein«, meinte sie und schaute
ihren Bruder an.
»Zehn Minuten höchstens«, sagte Hake. Julia nickte
und hastete ins Haus. Der Mann machte einen Schritt auf Hake zu und
streckte die Hand aus.
»Gustav Lövenhelm«, stellte er sich vor.
»Axel Hake. Ich bin Julias Bruder.«
»Ach so«, meinte Lövenhelm. »Sie sehen sich nicht
sehr ähnlich.« Er musterte Hake ungeniert.
»Tja«, sagte Hake, »unsere Eltern behaupten, wir seien
verwandt, aber sicher wissen kann man das ja nie.« Lövenhelm
lächelte andeutungsweise, wiegte sich auf den Fußsohlen und
machte eine Handbewegung zum Haus hin.
»Wir haben Kräutertee. Bedienen Sie sich einfach, so funktioniert
das bei uns in der Kommune.« Hake bedankte sich und ging auf das
Haus zu, gerade als zwei junge Frauen angeradelt kamen und vor Lövenhelm
stehen blieben.Hake hörte ihn sagen, dass sie Glück hätten,
in der Kommune sei gerade Platz. Den Rest bekam er nicht mit, denn in
diesem Moment begann sein Handy schrill zu klingeln. Am anderen Ende
war Oskar Lidman, sein Kollege bei der Kripo.
»Es gibt Arbeit«, sagte Lidman.
»Wir haben eine Wasserleiche. « Hake ging ins Haus, um Julia
zu finden. Er glaubte, sie im zweiten Stock reden zu hören und
ging, der Stimme folgend, eine breite Treppe hinauf. In einem der Räume
stand Julia vor einem sehr jungen Mann mit blassem, fast albinobleichem
Gesicht und leuchtend weißem Haar.
»Ich weiß noch nicht, Julia«, sagte der Junge mit
einem slawischen Akzent.
»Ich habe eine Menge zu tun.«
»Bitte, bitte, Liebling«, schmeichelte Julia.Hake gefiel
der Ton ihrer Stimme nicht. Sie klang unterwürfig und zuckersüß.
Der Junge nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie mit einem
zufriedenen Ausdruck an. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schob
sie dann brüsk von sich weg. Gleich darauf wandte er sich dem Hund
zu, der auf einer Decke lag und an dessen Bauch vier Welpen gekuschelt
waren.
»Wie geht es denn nun eigentlich Elina?« Julias Augen hingen
noch einige Sekunden an seinem Gesicht, ehe sie zu der Hündin hinunterschaute.
In diesem Moment ließ sich Hake in der Tür blicken, so als
sei er gerade erst die Treppe herauf gekommen und habe nicht gesehen,
was vor sich ging. Juri betrachtete ihn forschend. »Ich muss los,
Julia. Oskar Lidman hat angerufen. Ich habe Bereitschaft, und es ist
eilig. Die Spurensicherung ist schon am Tatort.«
»Tatort«, wiederholte Juri. »Bist du ein Bulle?«
»Nein«, sagte Axel Hake.
»Ich bin Polizist, und was bist du?« Juri lächelte
versonnen und warf einen Seitenblick auf Hakes Schwester.
»Wenn es nach Julia geht, bin ich Fürst Myshkin. Sie wissen
schon, aus Dostojewskis Buch.«
»Ein Idiot also.« Julia warf ihm einen vernichtenden Blick
zu, aber Juri antwortete nur ruhig:
»Das kann schon sein. Vielleicht bin ich ein Idiot.« Er
lächelte Julia zu, und das Lächeln war blendend. Oskar Lidman
wartete unten am Pålsund-Kanal. Die Spurensicherung hatte den
Bereich abgesperrt, und einige Schaulustige standen herum und versuchten
zu sehen, was passiert war. Die Leiche lag hinter einem aufgespannten
Tuch, das dafür sorgen sollte, dass die Pressefotografen keine
Gelegenheit zu einem Schnappschuss bekamen. Ein Reporter sprach mit
Marianne de Vrie, die mit leiser Stimme von ihrem Fund berichtete. Kommissar
Axel Hake trat ein paar Schritte vor, um die Person sehen zu können,
die auf der Plastikbahre lag. Das Gesicht war grotesk aufgequollen,
man konnte die Züge nur mit Mühe erkennen. Die Haare waren
rot, aber die Augenfarbe unmöglich zu bestimmen. Fische und anderes
Wassergetier hatten die Augäpfel zum größten Teil weggefressen.
»Wissen wir, um wen es sich handelt?«, fragte Hake. Oskar
Lidman schüttelte den Kopf und versenkte seine Hände in den
Jackentaschen. Er war korpulent, um nicht zu sagen fett, aber wenn es
nötig war, bewegte er sich gewandt und schnell. Man konnte leicht
erraten, dass Tanzen sein Hobby und seine Passion war, denn seine Schritte
wirkten rhythmisch, als folgten sie dem Takt einer Salsa- oder Rumbamelodie.
»Allzu schwer kann das nicht werden, mit dieser Tätowierung.
« Hake deutete auf den linken Arm des Mannes, wo ein weißer
Flügeldrache in chinesischem Stil vor einem schwarzen Hintergrund
schwebte. In einer Ecke des Bildes befand sich die Ziffer zwei und mitten
in der Tätowierung ein Viereck, das in zwei farbige Flächen
aufgeteilt war rot und grün und von einer Art goldener
Feuerflamme durchschnitten wurde.Hake hatte noch nie etwas Ähnliches
gesehen.
»Es wird schwierig, falls er nicht aus Schweden stammt«,
gab Lidman zu bedenken. Die dünne Gestalt von Gerichtsmediziner
Brandt kam auf sie zu. Der Mann grüßte mit einem kurzen Nicken.
»Ich kann jetzt schon sagen, dass sich der Zeitpunkt des Mordes
unmöglich bestimmen lassen wird. Der Mann hat sicher eine gute
Woche im Wasser gelegen, und die Wassertemperatur hat in den letzten
Tagen sehr geschwankt.«
Mal wieder typisch, dachte Hake. Das bedeutete, dass man
eventuelle Verdächtige nicht nach einem Alibi befragen konnte.
»Aber er ist auf jeden Fall ermordet worden«, fuhr Brandt
mit seiner heiseren Stimme fort, die wie das Knirschen von trockenem
Kies klang.
»Jemand hat ihm mit einem gerundeten Gegenstand auf den Kopf geschlagen,
zwei- oder dreimal hintereinander. Ein Eisenrohr oder etwas Ähnliches.«
»Also war er tot, bevor man ihn im Wasser versenkt hat?«
Brandt betrachtete Hake mit kaum verborgenem Widerwillen.
»Was glauben denn Sie? Wie Sie selbst sehen können, ist der
Schädel so gut wie zertrümmert.«
»Man kann einen Menschen wohl zuerst ertränken und ihm dann
den Schädel einschlagen«, konterte Hake ruhig.
»Manchmal kommt es ja vor, dass ein Mörder nicht mit offenen
Karten spielt.« Er dachte nicht daran, Brandt einen so billigen
Sieg zu gönnen. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Brandt um und
marschierte Richtung Leichenwagen davon. Hake schaute erneut auf das
Mordopfer. Die Kette um den Fuß des Mannes hatte tief ins Fleisch
geschnitten, und man sah deutlich den weißen Knochen unter dem
Metall. Der an der Kette befestigte Anker bestand aus Stahl und war
schwer genug, um einen Körper ohne Weiteres unter Wasser zu halten.
Danke an den Heyne Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |