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"Himmelstal" von Marie HermansonHimmelstal – Die Hölle auf Erden
Marie Hermansons „Himmelstal“ sorgt für Furore. Dabei ist die Göteborgerin eingefleischten Fans der skandinavischen Literaturszene schon seit bald fünfzehn Jahren bekannt. Ihren (internationalen) Durchbruch schaffte Hermanson 1998 mit „Muschelstrand“, einem grandiosen Roman über das Verschwinden eines Mädchens einerseits und der individuellen Identitäts- und Spurensuche andererseits. Marie Hermanson als „neuen Stern am skandinavischen Krimihorizont“ zu preisen, wäre deshalb falsch. In ihrer Art, Grenzen der Identität zu erforschen und mit Spiegelungen und Verwechselungen zu arbeiten, erinnert sie vielleicht am ehesten an Karin Alvtegen und hier wie dort von „Spannungsliteratur“ zu sprechen, wie es die Schweden schon lange tun, wird beiden Autorinnen sicherlich besser gerecht, als sie ins Krimi- oder Psychothrillergenre zu pressen. Marie Hermansons bizarre Welt Marie Hermansons Fähigkeit, dem Unausgesprochenen Raum zu geben und Mythisches mit der Realität so zu konfrontieren oder zu verbinden, dass sich der Leser nicht sicher sein kann, ob seine Wahrnehmung der Dinge stimmt oder nicht, zeigt sich auch in ihren „Muschelstrand“ vorangegangen und folgenden Werken wie „Die Schmetterlingsfrau“ von 1995, „Ein unbeschriebenes Blatt“, „Saubere Verhältnisse“ oder „Der Mann unter der Treppe“. Ihre Protagonisten sind stets verirrte Seelen, die im Hier und Jetzt und der Gesellschaft keinen Platz – oder besser: ihren Platz – nicht finden. Sie sind oft Außenseiter, aber nicht immer, geraten durch Schicksalsschläge oder ihre Herkunft in Situationen, die ihre Identität existentiell in Frage stellen. Ihre Identitäts- und Spurensuche beginnt oft mit einem Rückzug aus der Realität in eine andere, meist bizarre Wirklichkeit. Am Ende bleibt oft, wie beispielsweise in „Die Schmetterlingsfrau“ , das beunruhigende Gefühl, einem Drogenrausch gleich, einer Scheinrealität aufgesessen zu sein.
Der eigenen Wahrnehmung darf man in Marie Hermansons Werken nicht trauen, nicht als Leser und nicht als Protagonist. Eine Parallelwelt mit doppelten Böden im konkreten wie metaphorischen Sinn erschafft Marie Hermanson auch in „Himmelstal“. Kein Zauberberg In Anspielung an Thomas Manns „Der Zauberberg“ verschlägt es den ehemaligen Dolmetscher und jetzigen Lehrer Daniel in ein Schweizer Bergdorf namens Himmelstal, um dort seinen Zwillingsbruder Max zu besuchen. Der soll sich in der Alpenidylle in einer Reha-Klinik für Manager mit Burnout-Syndrom befinden. Doch schon die Anreise zeigt deutlich, dass Himmelstal kein gewöhnlicher Ort ist. Eine seltsame Atmosphäre umgibt das Tal, die Klinik und ihre Bewohner, Daniel nimmt von der Umgebung „kaum etwas wahr“, zu strapaziös war die lange Anreise von Schweden, zu „verzaubernd“, in den Bann ziehend, die Bergwelt. Als Max Daniel bittet, ein paar Tage länger in der Klinik zu bleiben und sich als Max auszugeben, weil er dringende Geschäfte in Italien zu erledigen hätte, beginnt für Daniel ein Spiel um Leben und Tod, um die eigene Identität und um Gut und Böse. Letzteres ist nicht eindeutig zu identifizieren und zu unterscheiden, und als Max nicht, wie versprochen, nach ein paar Tagen wieder zurückkehrt, glaubt Daniel niemand, dass ein Identitätswechsel stattgefunden hat. Himmelstal entpuppt sich dabei auch nicht als Reha-Klinik für Burnout-Patienten, sondern als geheimes Versuchslabor exzentrischer, um nicht zu sagen, zum Teil wahnsinniger Wissenschaftler und Ärzte für Psychopathen. Klare Verhältnisse am Ende Mit der Frage, ob nicht eigentlich die Ärzte und Psychiater die Kranken sein könnten, dem Bild des wahnsinnig gewordenen Arztes und dem tatsächlichen wie bildlichen Kampf Daniels um die eigene Identität erweist sich „Himmelstal“ als typischer Marie-Hermanson-Roman. Die Identitätssuche liegt letztlich all ihren Werken zugrunde, einen exzentrischen Arzt und eine abgeschottete Umgebung zur „Gesundung“ gab es schon in „Die Schmetterlingsfrau“ – nur viel besser.
Marie Hermansons Stärke liegt in der Verdichtung, sowohl von Aussagen als auch atmosphärisch. Sie versteht es meisterlich, Dinge im Vagen zu belassen, Andeutungen zu machen, von denen man am Ende nicht sicher zu sagen vermag, ob sie so tatsächlich gefallen sind oder nicht. Ob die implizite Aussage wirklich gewollt ist oder nicht. Langsam, fast unmerklich, schleicht sich so ein Gefühl von Unbehagen ein. Erste Zweifel an der eigenen Wahrnehmung tauchen auf – und bleiben bis zum Schluss. All dies gelingt Marie Hermanson in „Himmelstal“ dieses Mal nicht. Zwar wird die Situation für Daniel mehr als ein Mal und vor allem zum Schluss lebensbedrohlich, auch glaubt man für einen kurzen Moment, die Ärzte und Psychiater seien die eigentlichen Psychopathen, doch eben nur für einen kurzen Moment. Am Ende erscheint alles in für Marie Hermanson ungewohnter Schärfe und Deutlichkeit klar geordnet, nach gut und böse, krank und nicht krank und einfach zu dick aufgetragen, unglaubwürdig. Auch die richtige „Zauberberg-Atmosphäre“ will sich trotz klaustrophobischer Enge im Tal nicht wirklich einstellen. Einzig die aufgeworfene Frage, ob Psychopathie aufgrund einer physisch nachweisbaren Veränderung am Gehirn nicht als neuronale Krankheit aufzufassen sei und ob Psychopathen daher nicht eher therapiert denn bestraft und ins Gefängnis gehören, bleibt bis zum Schluss ungeklärt – und spannend. Doch das reicht nicht, um restlos zu überzeugen. Insbesondere Kenner von Marie Hermansons Œuvre werden alles in allem von „Himmelstal“ enttäuscht sein; neuen Lesern von Marie Hermanson aber möge der Romans als Ausgangspunkt für eine Entdeckertour durch Marie Hermansons literarische Welt dienen. Denn in Marie Hermansons bizarre und oft beängstigende Gedankenwelt einzutauchen, lohnt sich. |
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