Leseprobe
Etwas stimmte nicht mit diesem Kunden - das spürte sie sofort,
obwohl er sich nicht sonderlich bemerkbar machte. Ihr fiel zwar auf, dass
jemand zur Tür hereinkam, aber dieser Jemand blieb vor dem Regal
mit den Ferienkatalogen stehen, statt direkt zum Tresen zu kommen. Elise
fuhr zunächst mit ihrer Arbeit fort, ohne den Blick zu heben. Sie
starrte angestrengt auf ihren Bildschirm, während sie versuchte,
telefonisch eine Familienreise nach Kopenhagen zu verkaufen. Die Frau
am anderen Ende konnte sich nicht entscheiden. Sollten sie Hin- und Rückflug
buchen oder mit dem Schiff fahren und ihr Auto auf die Stena Saga quetschen,
um in Kopenhagen flexibel zu sein?
Elise warf einen kurzen Blick zu Katrine und registrierte, dass sie ebenfalls
beschäftigt war. Der Kopfhörer mit dem Mikrofon hielt Katrines
blondes, widerspenstiges Haar zurück; nur eine helle Strähne
fiel über ihren schmalen Nasenrücken. Auf der Stirn kräuselte
sich diese charakteristische Falte, die sie jedes Mal bekam, wenn sie
sich konzentrierte. Ihr Blick wanderte zwischen Tastatur und Bildschirm
hin und her, und ihre langen, dunklen Wimpern schlugen auf und ab. Wie
zarte Fächer, dachte Elise und betrachtete kurz das Gesicht, das
sich über die Tastatur neigte: Katrines vertrautes Profil mit der
markanten Nase über ihrem rot geschminkten Mund - diese eigenwillige
Oberlippe, die auf Männer wirkte, weil sie auf der einen Seite ein
wenig geschwollen war.
Manchmal hatte Elise das Gefühl, sie könne Katrines Mutter sein.
Katrine erinnerte sie an ihre älteste Tochter, nur dass sie impulsiver
war und leichter und häufiger lachte. Dennoch war es für Elise
ab und zu so, als säße dort ihre Tochter. Wahrscheinlich bemerkt
Katrine das und kann meine unnötige Fürsorge nicht wirklich
leiden, dachte Elise.
Als der Kunde sich kurz darauf dem Tresen näherte, legte Elise den
Hörer auf, sah dem Mann entgegen und stellte sich innerlich darauf
ein, ihn zu bedienen. Doch als er sie ignorierte und sich stattdessen
vor Katrine aufbaute, beugte Elise sich wieder über ihre Arbeit.
Sie nahm nur am Rande wahr, wie Katrine das automatische "Bitteschön"
sagte, lange bevor sie aufgehört hatte, auf den Bildschirm zu schauen.
Der flüchtige Gedanke kam Elise, dass sie über diese schlechte
Angewohnheit noch mit Katrine sprechen würde. Die Ermahnung nahm
in ihrem Kopf schon Gestalt an: Sag nie "Bitteschön", bevor
du mit dem Kunden Augenkontakt hast. Der Kunde fühlt sich immer wichtig.
Er empfindet sich als Mittelpunkt des Universums.
Wenn man ihm nicht die volle Aufmerksamkeit schenkt, wird der Kunde ärgerlich.
Das ist eine ganz menschliche Reaktion.
Elise sah aus dem Augenwinkel, dass Katrine den Kopfhörer abnahm.
Sie sagte etwas. Was, konnte Elise später nicht mehr sagen. Sie erinnerte
sich hauptsächlich an das, was anschließend geschah.
Dieser Kunde, ein relativ hoch gewachsener Mann, war mit dem ausgestattet,
was Elise gern "vulgäre Totem- Zeichen" nannte. Er trug
eine schwarze Lederweste über dem sonnengebräunten, nackten
Oberkörper. Seine Jeans war verschlissen und hatte Löcher an
den Knien. Obwohl er über vierzig sein musste, hatte er das grau
melierte, lange Haar zu einem geschmacklosen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Ein überdimensionaler Goldring baumelte an einem Ohr. Dieser Mann
war schlicht und einfach ein Prolet. Elise war entsetzt.
Der Mann streckte sich über den Tresen, und als er nach Katrine griff,
erkannte Elise eine riesige Narbe an seinem Unterarm. Katrine stieß
in Panik den Stuhl nach hinten vom Tresen weg, sodass er rückwärts
rollte und gegen die Wand prallte. "Ruf die Polizei!", schrie
Katrine, als sie mit dem Stuhl umkippte und auf dem Boden landete. Wie
lächerlich das aussieht, konnte Elise noch denken, wie in einer Filmkomödie
aus den Sechzigerjahren. Katrine lag wie eine dieser tollpatschigen Blondinen
rücklings auf dem Bürostuhl und strampelte mit den Beinen in
der Luft herum. Das Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht. Während Elise
die Worte "lächerlich" oder "komisch" dachte
- sie war sich im Nachhinein nicht mehr sicher, was genau sie gedacht
hatte -, sprang sie auf und stierte dem Proleten mit selbstbewusster
Miene ins Gesicht. Dass sie dazu fähig war, sollte sie später
noch wundern. Sie war noch nie überfallen worden, und jetzt schossen
ihr glasklar die Worte durch den Kopf: Lieber Himmel, wir werden ausgeraubt!
Das ist ein brutaler Gewaltverbrecher! Wir werden psychisch völlig
aus dem Gleichgewicht geraten!!
Plötzlich nahm der Störenfried Elises Anwesenheit wahr. Er warf
ihr einen schnellen Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder
auf die am Boden liegende Katrine. Er schien einen Entschluss zu fassen.
Es sah aus, als wolle er über den Tresen springen. Da durchbrach
Elise die Stille. "Sie wünschen, junger Mann?" Und wie
barock das in dem Moment auch klingen mochte, es verfehlte seine Wirkung
nicht. Der Randalierer sah wieder zu ihr herüber und zögerte.
Schließlich - wahrscheinlich nach wenigen Sekunden, die ihr wie
mehrere Minuten vorkamen - änderte er seine Meinung. Er schob sich
mit wildem Blick rückwärts auf den Ausgang zu. Katrine, die
jetzt auf den Knien hockte und sich den Kopf hielt, brüllte er an:
"Du tust, was ich sage, hörst du? Hörst du?"
Die Tür schepperte hinter ihm ins Schloss.
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Die Tür. Sie sah haargenau so aus wie noch wenige Sekunden zuvor.
Es war dieselbe Tür im selben Raum, und dennoch betrachtete man sie
jetzt mit anderen Augen, nahm sie völlig anders wahr.
"Was war das?", brachte Elise heraus. Sie war völlig verwirrt,
wie gelähmt und nicht ganz sicher, was hier eigentlich geschehen
war. "Himmelherrgott, was war das?"
Katrine hatte sich aus ihrer komischen Stellung aufgerappelt und warf
das Haar nach hinten. Sie hielt sich die Hüfte, bürstete sich
den Rock mit den Händen glatt und hinkte hinter dem Tresen hervor.
Sie hatte eine Sandale verloren, deshalb humpelte sie mit nur einem Schuh,
den anderen Fuß nackt, zur Tür. Sie schloss ab und drehte sich
zu Elise um. Ein paar Sekunden lang stand sie an die Tür gelehnt
und rang nach Atem. Die Augen weit aufgerissen, das Haar zerzaust. Von
ihrer Bluse war ein Knopf abgesprungen, als sie gefallen war, und sie
hielt sie mit einer Hand zusammen. Katrine ähnelte eher einem Girly
aus einer Seifenoper als der Ersatztochter, die Elise sonst in ihr sah.
Auch sie stand immer noch ganz verschreckt da. Nicht ein Laut war zu hören,
außer Katrines heftigem Atem und dem Telefon, das hinter dem Tresen
zu klingeln begonnen hatte.
Danke an den Ehrenwirth Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |