Leseprobe
Der kleine Petter.
DER SANDKASTEN WAR VIEL ZU KLEIN, er musste ihn ganz und gar ausnutzen.
Niemand sonst durfte auch nur einen Fuß hineinsetzen.
Der Sandkasten war zu einem Boot geworden, zu einem Bild, einem Gesicht,
das er aus verschiedenen Karton-Stücken zusammenbaute. Während
der Arbeit dachte er die ganze Zeit an sie. Daran, wie weich sie gewesen
war. Und wie schön. Und er dachte viel über die Tatsache nach,
dass er am Leben war. Er. Und nicht sie. Dass er am Leben war, obwohl
sie nicht mehr lebte. Dass die Erwachsenen sich gewaltig geirrt hatten.
Er schaute zu den nackten, schmutzigen Gesichtern hoch, die ihn umgaben.
Ihre Körper warfen Schatten, der Sand lag im Dunkeln, abgesehen von
einem schmalen Streifen kalter Sonne, der quer über den mit Wasser
gefüllten Joghurtbecher fiel. Der Becher stand genau in der Mitte,
er hatte das mit den Händen ausgemessen und ihn dann, ohne etwas
zu verschütten, in den Sand gebohrt. Und er hatte auch darauf geachtet,
dass kein Sand ins Wasser geriet, es musste doch sauber sein. Eigentlich
schwamm in diesem Wasser eine ertrunkene Katze, aber das wusste außer
ihm niemand.
"Petter weint", sagte eine Stimme.
"Warum weinst du?", fragte eine andere.
Er hatte Stücke aus einem Milchkarton gerissen und wie einen Stern
um den mit Wasser gefüllten Becher gelegt. Und er hatte am Abend
zuvor den Rest von Sussis Trockenfutter in seinen Rucksack gesteckt, niemand
hatte das gemerkt. Jetzt lagen die Stücke in einem großen Ring
um die rotgefleckten Fetzen aus Milchkarton. Sie hatte Milch geliebt,
immer hatte sie ihren Napf leer getrunken.
Seine Gummihose raschelte, wenn er sich bewegte. Er hatte hinten beim
Zaun weiße Steine gefunden, die legte er nach außen. Sie waren
unterschiedlich groß, und einige waren eher grau, aber er hatte
eben nur sie, und eigentlich sahen sie gut aus. Am Sandkastenrand zeichnete
er eine lange Reihe von kleinen Kreuzen in den Sand. Er hätte sie
gern größer gemacht, aber dazu war nicht genug Platz. Er hätte
auch gern einige Dosen mit Ölsardinen hingelegt, in jede Ecke eine.
Sie hatte immer laut miaut, wenn sie so eine Dose entdeckte, einfach bei
ihrem Anblick, wenn jemand sie in der Hand hielt. Er hatte die Dosen nie
für sie öffnen dürfen; Tante Lise glaubte, er könnte
sich schneiden, wenn er den langen, komischen Schlüssel herumdrehen
und aus dem Dosendeckel eine Metallwurst machen dürfte. Aber immer
hatte er die Dose auf den Boden setzen dürfen, und dann hatte er
zugesehen, wie sie sich zuerst hinlegte und sozusagen zusammenfaltete,
Schwanz, Pfoten und alles, um dann langsam zu fressen anzufangen, mit
offenem Maul, so dass er sehen konnte, wie ihre schmalen, weißen
Eckzähne sich durch silbrigglänzende Fischhaut und dann ins
Fleisch hineinbohrten.
Du bist so fein, mein Sussilein.
Sie hatte eine Sardine nach der anderen aus dem Öl gezogen, hatte
sie über den Dosenrand gezerrt und auf den Boden fallen lassen. Dann
wurde der Fisch ausgiebig beschnuppert, angefangen beim Kopf und weiter
bis zu dem kleinen Schwanz. Danach aß sie sich vom Schwanz zum Kopf
vor. Auch die, die sie mit dem Kopf zuerst aus der Dose zog, wurden so
verzehrt, von hinten. Sie kaute immer abwechselnd auf einer Seite, schob
die Sardine nach rechts, wenn sie ein wenig auf der linken Seite gekaut
hatte.
"Was ist hier eigentlich los?"
"Petter baut", sagte eine Stimme.
"Und das wird richtig schön", sagte eine andere.
"Und dabei weint er die ganze Zeit", sagte eine dritte.
Der Schatten wurde tiefer, höher. Petter scharrte nicht mehr im Sand.
Alles zerfiel. Jetzt passierte es. Er hatte damit gerechnet, dass Erwachsene
kommen würden, es überraschte ihn, dass es erst jetzt passierte.
Er hatte damit gerechnet, dass alles zerstört werden würde,
hatte gewusst, dass jede Minute zählte, aber das spielte keine Rolle;
ihm war wichtig gewesen, alles zu planen und mit der Arbeit anzufangen,
nicht, dass es von Dauer sein sollte, dann hätte er es an einem geheimen
Ort gemacht, den andere nicht fanden. Im Wald. Hinter dem Haus von Tante
Lise und Onkel Jan, oder weit weg in einem fremden Land. Auf einem anderen
Planeten. Dort, wo der kleine Prinz wohnte, über den in dieser Woche
im Kindergarten vorgelesen wurde.
"Petter?"
Er schaute nicht auf. Nicht, als er gefragt wurde, was er hier mache.
Nicht, als diese Frage wiederholt wurde. Und schon gar nicht, als er daran
erinnert wurde, dass ein Sandkasten in einem Kindergarten ein Ort ist,
an dem alle spielen können, nicht nur ein einzelner Junge.
Der erste große Fuß trat drei Stücke Trockenfutter in
den Sand. Der Schuh war blau. Der nächste Fuß stieß den
Becher mit dem Wasser an, der Becher fiel jedoch nicht um. Auch dieser
Schuh war blau. Und plötzlich hockte ein ganzer Mensch vor ihm. Berit.
Ein großer Körper, der nach Erde und grüner Seife roch,
mit Händen, die sein Gesicht streichelten, während sie ihre
Fragen wiederholte.
"Was ist los, Petter?"
"Es ist so dunkel hier", sagte er.
Buchtipp |
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SIE WAR SO WUNDERBAR GEWESEN, dass er anfangs nicht geglaubt hatte,
etwas so Wunderbares könne lebendig sein. Sie hatte die Augen geschlossen
und öffnete sie auch nicht, als Onkel Jan sie in seine plötzlich
ausgestreckten Arme legte.
Er hielt sie fest. Er hatte schreckliche Angst davor, sie loszulassen.
Er spürte die Stöße eines winzigen Herzens, sein rasches
Pochen. Sie war lebendig. Hinter dem weißen Fell mit dem schwarzen
Tupfen auf dem einen Ohr.
Dann gähnte sie. Das winzigste Maul der Welt öffnete sich und
zeigte rosa Glätte und Sauberkeit und winzige weiße Stacheln,
bei denen es sich vermutlich um Zähne handelte. Ihr Gaumen war geriffelt,
wie der Sand am Strand bei Ebbe, und ihre Zunge war weiß belegt,
mit, wie er später herausfand, einer Art Fell aus Widerhaken, die
ein scheußliches Geräusch machten, wenn sie seine Wange leckte.
Ihr Maul war so klein, dass er kaum die Spitze seines kleinen Fingers
hineinstecken konnte.
Tante Lise und Onkel Jan standen über ihm; er merkte, dass ihnen
sein Staunen und seine Freude gefielen. Ohne hinzusehen, wusste er, dass
sie Blicke und vielleicht auch ein Nicken wechselten. Er hatte gelernt,
sie zu durchschauen. In dem Jahr, das er bei ihnen verbracht hatte, hatten
sie bewiesen, dass sie nicht gemein waren. Selbst als er krank und schlapp
gewesen war und sie mit ihm hätten machen können, was sie wollten,
hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Aber sie hatten ja auch einander zum
Kuscheln und brauchten ihn nicht.
Er schmiegte sein Gesicht an sie, sie zappelte mit den Beinen. Sie duftete
nach Wind und Vanille.
"Ist die für mich?"
"Ja. Weißt du nicht mehr, dass wir zu Heiligabend darüber
gesprochen haben? Als du den Film über den Jungen gesehen hattest,
der einen Hund bekam? Wir haben gesagt, dass du ein Tier haben kannst,
wenn du sechs wirst? Einen Fisch oder einen Vogel oder so?"
Tante Lise hatte sich vor ihn gehockt. Ihr Gesicht war weit offen, und
wenn er jetzt etwas ganz Gemeines sagte, dann würde es zerbrechen.
Er sagte nichts Gemeines. Er sagte:
"Das ist aber kein Fisch und kein Vogel. Das ist eine Katze."
"Du musst einen Namen für sie finden", sagte Onkel Jan.
Der Onkel blieb stehen, er ging nicht in die Hocke, er hatte einen wehen
Rücken.
"Ist das ... eine Katzenfrau? Oder ein . . . "
"Das ist ein kleines Miezenmädel", sagte Onkel Jan. "Glauben
wir. Wenn sie so klein sind, kann man das nicht immer so leicht sehen."
"Sussi", sagte Petter.
"Sussl? Ooooo, was für ein schöner Name", riefen die
beiden wie aus einem Munde, Tante Lise richtete sich wieder auf Und jetzt
wusste er ganz genau, dass sie nickten und Blicke tauschten. Jetzt hätte
er etwas Gemeines sagen und damit den Augenblick unter seine Kontrolle
bringen müssen, aber zum zweiten Mal verzichtete er darauf.
"Und sie gehört mir", fügte er hinzu. Er hörte
die beiden lachen. Sie lachten auf eine glückliche, glucksende Weise,
und kleine Speicheltropfen flogen aus ihrem Mund, ohne dass das eine Rolle
spielte.
Er legte den Kopf in den Nacken und lächelte zu ihnen hoch.
Danke an den Goldmann Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |