Das Mobiltelefon surrte auf der Fensterbank. Es
war stumm geschaltet, und allein der hart näckige Vibrationsalarm
verriet, dass jemand Louise Rick zu erreichen versuchte.
Louise lag in der Bade wanne. Der Schaum war verschwunden, und als sie
die Augen aufschlug, bemerkte sie, dass das Wasser eher kühl als
lauwarm war. Es war halb zehn Uhr am Vormittag. Draußen warf die
Märzsonne ihr schneidendes Licht auf den Hof. Louise war mit ihren
Gedanken weit weg, und sie hatte nicht die geringste Lust, jene Welt
zu verlassen, in die sie eingetaucht war. Einen Augenblick lang dachte
sie darüber nach, die Wanne zu leeren und anschließend mit
warmem Wasser und Unmengen wohlduftenden Schaums wieder aufzufüllen
und einen weiteren Ausflug zu unternehmen, doch es wäre nicht dasselbe
gewesen.Sie war unterbrochen worden und würde mit ihren Gedanken
nicht an den selben Ort zurückkehren können. Als würde
man aus einem schönen Traum gerissen. Man findet ihn nur selten
wieder. Als sie sich aus dem Wasser stemmte, stieß sie mit dem
Ellenbogen gegen den Wasserhahn, und sie reagierte instinktiv auf diesen
Stoß, in dem sie den Arm an sich zog.
Louise rechnete aus, dass fünf Stunden vergangen waren, seit sie
ins Bett gegangen war, und dass es noch gut zwei Stunden dauern würde,
bis sie und der Rest des Teams sich zu einer Lagebesprechung im Konferenzraum
der Abteilung A im Polizeipräsidium ein finden würden. Gerade
jetzt hätte sie alles dafür gegeben, um um dieses Treffen
herumzukommen. Sie sandte ein kleines Stoß gebet zum Himmel, dass
dieser Gedanke die Mord kommission erreichen möge, worauf hin Suhrdann
die Lagebesprechung auf einen späteren Zeitpunkt am selben Tag
ver schieben würde. Sie ergriff das dunkel blaue Frotteehandtuch,
bevor sie aus der Wanne stieg, wickelte es um ihr Haar und langte nach
dem Bademantel hinter der Tür. Ihr ganzer Körper schmerzte,
ihre Augen brannten, und sie war dermaßen müde, dass sie
sich auf der Stelle hätte hinlegen und einschlafen können.
Gleichwohl ging ihr das Gespräch der vergangenen Nacht nicht aus
dem Kopf.
Die Trauer saß noch wie ein dumpfer Schmerz in ihrer Brust. Nicht
ihre persönliche Trauer, sondern die Trauer, die einen ergreift,
wenn man mit ansehen muss, wie das Leben anderer Menschen zerstört
wird was geschieht, wenn sie von einer Tragödie getrof fen
werden. Wenn Tod und Verderben nicht mehr nur Dinge sind, über
die man liest, sondern etwas, das man unmittelbar erlebt. Draußen
in der Küche setzte sie Teewasser auf und nahm ein großes
Caffé-Latte-Glas aus der Vitri ne. Sie hatte vor einiger Zeit
begonnen, ihren Tee aus großen Gläsern zu trinken. Das ergab
genau die richtige Menge, mehr als eine Tasse und weniger als eine Kanne.
Während sie aus dem Fenster in den Hof hinausstarrte, gingen ihre
Gedanken auf Wanderschaft. Sie fühlte sich innerlich leer, wusste
aber, dass sie sich wieder aufrappeln würde, und wie so viele Male
schon, wenn sie sich in dieser Stimmung befunden hatte, dachte sie an
den Tag zurück, an dem sie nach Østerbro hinaus gerufen
worden war. Zwei Männer Ende zwanzig waren in der Nordre Frihavnsgade
überfallen worden. Einer von ihnen, ein Mann namens Morten Seiersted-Wichman,
war brutal durch das Schaufenster eines Modegeschäfts geschleudert
worden, doch bevor das geschah, war er niedergeschlagen worden. Anschließend
hatten ihm die Täter sechs, sieben Mal gegen den Kopf getreten,
bevor sie ihn vom Bürgersteig hochgehievt und so kräftig gegen
die Schaufensterscheibe gestoßen hatten, dass sie zerbrach. Der
Gerichtsmediziner sagte später, dass Morten nicht bei Bewusstsein
gewesen sei, als die massive Glasscheibe seine Halsschlagader durchtrennte.
Das andere Opfer war Mortens Schwager Henrik Winther gewesen. Louise
hatte ihn als langen, dünnen Mann in Erinnerung. Er hatte mehr
Glück gehabt. Die Polizei mutmaßte, dass sich die Täter
an Morten abreagiert hatten und vermut lich auch über das viele
Blut erschrocken waren, das aus Mortens Hals geströmt war. Henrik
Winther war mit einem gebrochenen Nasenbein und einer Rippenprellung
davongekommen. Damals war Louise bei der Kriminalpolizei beschäftigt
gewesen. Mortens Tod hatte sich wie eine dauerhafte Behinderung in ihr
festgesetzt nicht so sehr der Überfall selbst, sondern eher
das, was geschah, als sie seiner Freundin die Nachricht überbringen
sollte. Eine halbe Stunde, nachdem die Krankenwagen mit den beiden Männern
davon gefahren waren, hatte Louise vor der gemeinsamen Wohnung von Morten
und seiner vierundzwanzigjährigen Lebensgefährtin gestanden
und auf die Klingel gedrückt. Als die Tür geöff net wurde,
konnte sie noch Charlot te Winthers offenen und überraschten Gesichtsausdruck
wahrnehmen, die sagte: »Hallo, äh, ich dachte, es wären
Morten und Henrik. Sie haben die Schlüssel vergessen
«
Louise konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, mit welchen Worten
sie geschildert hatte, was geschehen war. Aber es hatte sich in ihr
Gedächtnis eingebrannt, wie sich Christine Winthers Gesichtsausdruck
verändert hatte, von der erwartungsvollen Freude über die
Rückkehr ihres Freundes über die Verwirrung und Verwunderung
darüber, dass die Polizei vor ihrer Tür stand, bis er sich
am Ende vollkommen aufgelöst hatte. Während der Zeit, die
Louises Nachricht zum Durchsickern brauchte, hatte Charlotte Winther
immer wieder mit dem Kopf genickt und gesagt, dass sie furchtbar traurig
sei zu hören, dass so etwas geschehen sei. Es sei ganz schrecklich,
aber es könne sich gar nicht um Morten handeln, denn der sei ja
nur kurz zu sammen mit ihrem Bruder zum 7Eleven gegangen. Sie sah immer
noch Charlotte Winthers Blick vor sich, mit dem sie immer weiter darauf
beharrt hatte, dass es sich unmöglich um Morten und Henrik handeln
könne. Im Übrigen würde man doch in Østerbro nicht
mitten am Tag überfallen. So etwas gebe es doch einfach nicht,
hatte sie immer und immer wie der gesagt, mit einer Stimme, unter der
schon die Verzweiflung lauerte. Doch in ihren dunklen Augen hatte Louise
sehen können, dass die Wahrheit langsam in ihr Bewusstsein einsickerte.
Louise hatte mit halbem Ohr gehört, dass ihr Kollege hinter ihr
die Treppe heraufkam. Sie wollte weiter in die Diele hineingehen und
Charlotte ins Wohnzimmer führen, damit sie sich beide setzen konnten.
Aber plötzlich war sie wie versteinert gewesen. Sie hatte einfach
nur dagestanden und die junge Frau erschrocken angestarrt, während
sie spürte, wie eine Lähmung immer mehr von ihr Besitz ergriff.
Dann fühlte sie eine Erschütterung in ihrer Brust, als würde
ein Damm brechen und eine Welle der Verzweiflung freigeben, die durch
ihren Körper wogte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und
sie spürte, wie sich ihre Luftröhre schloss.
Danke an die