Leseprobe
Sonntagnacht
Eva Beldon hatte Angst.
Sie hatte gewusst, dass das hier passieren konnte. Sie hatte sich ausgemalt,
wie es sein würde, zumindest hatte sie geglaubt, das getan zu haben.
Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Die Podiumsdiskussion im
Haus des Arbeiterbildungsbundes in Stockholm war an diesem Abend schon
gegen halb neun zu Ende gewesen, aber die anschließende Fragestunde
hatte sich in die Länge gezogen. Der Saal war brechend voll gewesen,
die Luft stickig. Außer Eva hatten der politisch linksgerichtete
Chefredakteur einer mittelschwedischen Zeitung, eine Abgeordnete der
liberalen Folkparti, ein Aktivist der Göteborger Krawalle und ein
Vertreter der Polizei, der sich zweimal hatte bitten lassen, auf dem
Podium gesessen. Aufgrund des Themas »Ist unsere Polizeikultur
gewaltverherrlichend?« war es schwierig gewesen, einen Polizeibeamten
zu finden, der sich zur Verfügung stellte. Sowohl diejenigen, die
mit einem beleidigten Nein reagierten, als auch die, die die Frage mit
Ja beantworteten, hatten guten Grund fernzubleiben, weil zahlreiche
Beweise für das Gegenteil sprachen und weil sich die Kollegen damit
nicht sonderlich beliebt machten. Hinterher waren alle hitzig diskutierend
die Straße entlanggestiefelt und aus irgendeinem Grund im Tip
Top gelandet, wo das aufgeregte Gespräch fortgeführt wurde.
Buchtipp |
|
Eva hatte sich neben den Beamten von der Polizei gesetzt. In dieser
persönlichen Runde hatte er sich entspannt und mehr von sich selbst
erzählt, seine widersprüchlichen Gefühle waren an die
Oberfläche gedrungen, die Liebe zum Job, die Unzufriedenheit mit
der Dezernatsleitung, die nie ausreichend Unterstützung gab, das
Gefühl, von der Presse verfolgt und missverstanden zu werden (zum
Beispiel von Eva), sowie seine Sorge über reaktionäre und
rassistische Strömungen im Korps. Sie hatten sich richtig gut unterhalten.
Als Eva schließlich gegen halb zwölf zur U-Bahn an der Handelshochschule
ging, war sie bester Laune, leicht beschwipst von mehreren Bieren und
dem wohltuenden Gefühl, sich mit einem anderen Menschen tatsächlich
ausgetauscht und sich nicht nur aus dem Schützengraben beschossen
zu haben. Ihr Mann und ihr zehnjähriger Sohn schliefen in dem kleinen
Vierzimmerholzhaus, das sie vor zwölf Jahren in Alvik gekauft hatten
und das nun plötzlich dank der neuen Grundsteuerveranlagung zu
einer Luxushütte avanciert war. Sie freute sich darauf, nach Hause
zu kommen, zu duschen, sich noch ein spätes Käsebrot in der
Küche zu gönnen und zu ihrem Mann ins Bett zu kriechen. Sie
sehnte sich nach ihm. Morgen würde sie einen Artikel über
den Arbeiterbildungsbund schreiben, über dessen Ideale und darüber,
wie man die Volksbildungsideale in die neuen Zeiten hinüberretten
könnte. Sie musterte sich selbst in dem großen Schaufenster
eines Fitnessstudios. Klein und rund, mit fröhlichen Augen unter
dem hellen, lockigen Haar und einem richtig schicken, weinroten Mantel
mit schwarzen Paspeln. Sie zwinkerte sich zu. Zwanzig Minuten später
stieg sie in Alvik aus und begann, den Hügel hinaufzustapfen. Gut,
dass es ihn gab, denn diese Steigung zu bewältigen war so gut wie
ihre einzige sportliche Betätigung. Die Straßen waren leer.
Es war Anfang Mai, die Nächte waren noch kalt, aber die Bäume
in dem großen, dunklen Park zu ihrer Rechten hatten auszuschlagen
begonnen, und der Duft von Erde, Gras und eben aufgeblühten Blumen
war betörend. Sie quälte sich mühsam bergan, als ihr
Handy klingelte. Es war ihr Mann.
»Du schläfst noch nicht?«, fragte sie erstaunt und
gleichzeitig froh. Sie wollte mit ihm das Käsebrot am Küchentisch
gern teilen und ihm dabei berichten, was am Abend alles geschehen war.
Doch darauf hatte sie nicht zu hoffen gewagt, denn er war Tischler und
musste am Montagmorgen früh aufstehen.
»Nein, Lina und Mattias sind vor ein paar Stunden
vorbeigekommen, und wir hatten noch Hunger. Wo bist du? Wann kommst
du?«
»Ich bin gleich da, in acht Minuten bin ich zu Hause.
Kannst du mir einen Kaffee aufsetzen?«
»Natürlich! Wenn du kommst, ist er fertig. Ich umarme dich,
Liebling, bis gleich!«, sagte er und legte auf. Als sie ihr Handy
in die Tasche zurücksteckte, entdeckte sie einen weißen VW-Bus,
der ein Stück weiter oben mitten in der Kurve parkte. Das sah seltsam
aus. Sie blieb stehen, betrachtete den Wagen und fühlte, dass sich
ihr Misstrauen regte. Sie hatte sich geschworen, niemals ihre innere
Stimme zu ignorieren. Sie machte ohne lange zu zögern auf dem Absatz
kehrt und begann, zur U-Bahn zurückzugehen.
Ihr Mann würde sie abholen kommen. Lieber einmal zu oft vorsichtig
sein, als einmal zu wenig. Während sie in ihrer Tasche nach dem
Handy kramte, hörte sie, wie der Lieferwagen angelassen wurde.
Zu ihrem Erstaunen kam das Geräusch näher, und als sie sich
umdrehte, sah sie entsetzt, wie er in voller Fahrt rückwärts
auf sie zuraste.
Sie begann zu rennen. Sie war allein auf der Straße. Die Fenster
der niedrigen Wohnhäuser auf der anderen Seite waren dunkel, die
Geschäfte geschlossen, und sie würde es auf keinen Fall dort
hinüberschaffen. Sie konnte schräg durch den Park laufen,
zu den Villen auf der anderen Seite, die jedoch mehrere hundert Meter
entfernt waren. Wenn der Mann aus dem Van heraussprang und sie verfolgte,
würde er sie einholen.
Das Auto glitt dicht an der Bordsteinkante entlang und bremste drei
Meter vor ihr ab. Sie hatte das Handy nicht gefunden. Mit klopfendem
Herzen blieb sie stehen und schnappte nach Luft. Sie wollte schreien,
wollte versuchen, jemanden zu wecken, der ihr helfen konnte, aber sie
war völlig außer Atem. Sie konnte dem Mann am Steuer direkt
in die Augen sehen. Er war schwarz gekleidet, eine Strumpfmaske über
dem Kopf, und seine hasserfüllten Augen funkelten im Licht der
Straßenlaterne. Selbst aus ihrer Entfernung spürte sie, dass
er viel zu fanatisch war, als dass sie mit ihm hätte reden und
zu etwas Menschlichem in ihm hätte vordringen können.
Vielleicht würde er ihr Leben auslöschen und damit auch für
immer sein eigenes. Ihr fiel auf, wie still es war. Er öffnete
die Tür, sprang auf den Bürgersteig und kam auf sie zu.
Danke an den blanvalet Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |