|
|||||||||||||||||
|
|||||||||||||||||
|
|||||||||||||||||
Wenn die Existenz bedroht ist |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Kurt Wallander hat sie gehabt, seine norwegische Kollegin Hanne Wilhelmsen auch und nun also Margareta Davidsson – eine Lebenskrise. Wie ihre beiden Kollegen schickt auch Annika Bryn ihre Protagonistin in dieser Situation ins „Exil“: Nicht nach Dänemark, auch nicht nach Verona, sondern auf die schwedische Insel Gotland, die angesichts Margaretas existentieller Krise zur Metapher für deren innerer und äußerer Isolation wird. Zum Zeitpunkt ihrer Reise befindet sich ihre „Psyche in einer seltsamen Wartehaltung (…) In einem Vakuum, aus dem sie sich kaum befreien (kann).“ Auf der Arbeit war „sie demonstrativ energisch die Korridore entlanggeeilt“, bis ihr Chef sie schließlich zwingt, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen. So landet Margareta also auf Gotland, wo sie im wahrsten Sinn des Wortes über eine Frauenleiche stolpert, die direkt neben ihrem – von John Danielsson aus dem ersten und zweiten Roman – gemieteten Sommerhaus in Buttle abgelegt wurde.
Wermutstropfen Krimiplot
Als ob das nicht schon genug wäre, erkennt Margareta in der Leiche die junge Frau wieder, die ihr bereits am Fährhafen von Nynäshamn aufgefallen war. Ängstlich und nervös hatte diese einen LKW beobachtet. Das weckt bei der zwar angeschlagenen, aber erfahrenen Kommissarin alle Instinkte und so sichert sie gleich noch an Bord Spuren, indem sie vom unteren Ende des einen Türflügels des LKW einen roten Fleck, der wie Blut aussieht, abkratzt und sich das Autokennzeichen des LKW notiert. Als sie dann die junge Frau ermordet – erwürgt und vergewaltigt – auffindet, teilt Margareta ihren Verdacht gleich dem die Ermittlungen leitenden Kommissar Stefan mit, doch dem sind Margaretas Beobachtungen und Ahnungen zu vage, als dass er Frank Behlin, den LKW-Fahrer, ernsthaft aus dem Verkehr ziehen oder beobachten könnte. Also beginnt Margareta auf eigene Faust zu ermitteln und wird bald darauf überfallen und mit einem Messer angegriffen. Doch natürlich lässt Margareta nicht locker, ermittelt weiter, trifft den zwielichtigen Kent wieder, geht dem Mörder in die Falle, kann sich und andere jedoch retten und den Fall schließlich aufklären … Puh! Zur Ruhe kommen weder Margareta noch der Leser.
Wie schon in „Tatmotiv: unbekannt“ und vor allem in „Die sechste Nacht“ geht es bei Annika Bryn sehr actionreich her und, wie insbesondere in ihrem zweiten Roman, besteht der – einzige – Wermutstropfen darin, dass der Plot zu konstruiert wirkt. Dass Margareta auf ein bloßes Gefühl hin Spuren am LKW sichert, dann selbst die Leiche findet, in dieser die Frau vom Hafen erkennt und schließlich den Schlüssel zu gleich zwei Geschichten (parallel zum Kriminalfall erzählt Annika Bryn die Geschichte von Ida, die 1862 im Alter von nur 14 Jahren in Buttle auf Gotland gestorben ist) in den Händen hält, ist ein bisschen zu viel des Zufalls und wirkt zu künstlich.
Warum tun wir, was wir tun?
Das ist wirklich schade, denn Annika Bryn ist eine Autorin, die wichtige Dinge über uns und die Gesellschaft, in der wir leben, zu erzählen hat und die sich in unterschiedliche Charaktere einfühlen kann. Sei es nun in die taffe, aber angeschlagene Witwe Margareta, die ambivalente Gefühle für Kent hegt, nicht weiß, wie sie mit dem Verhältnis mit Kalle, ihrem jüngeren Kollegen, umgehen soll und ihrer plötzlichen, fast schon pubertären Verliebtheit zum gotländischen Kollegen Stefan oder die junge, magersüchtige Katrine – stets trifft Annika Bryn die richtige Tonlage, wählt die richtigen Worte. Ihre Charakterstudien gehören zu den besten, die die schwedische Kriminalliteratur gegenwärtig zu bieten hat. Anhand ihrer geht Annika Bryn den Fragen nach, die, laut Aussage der Autorin, Triebfeder ihrer schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit sind: Wie und warum entstehen Konflikte? Was macht Gewalt mit uns, wie beeinflusst sie uns? Warum tun wir, was wir tun?
Soziales Erbe und Eigenverantwortung
Beispielhaft durchgeführt wird dies anhand von Idas Familiengeschichte, die bis in die Gegenwart hineinreicht und im Zusammenhang mit dem aktuellen Mordfall steht. Sie zeigt, wie ein soziales Erbe von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das bedeutet aber keinen Freispruch für die Schuldigen, denn jeder Einzelne hat die Möglichkeit, sein Leben selbst zu gestalten, Muster zu durchbrechen, denn es ist weniger ein soziales als „vor allem (…) ein Muster von Entscheidungen.“ Nicht jeder mit einer „schweren Kindheit“ darf also auf Absolution hoffen, sie als Entschuldigung für alle erdenklichen Grausamkeiten missbrauchen. Es bleibt in der Verantwortung eines jeden einzelnen Individuums, sich ein (erstrebenswertes) Ziel zu setzen. Das illustriert Annika Bryn an Ernst, einem alkoholkranken Lokalpolitiker, der ins Visier der Fahnder gerät, und der Journalistin Cecilia Bredford, die, um ihrer selbst willen, mit ihrem Bruder gebrochen hat. Sich gegen das soziale Erbe – und damit gegen die eigene Familie – zu entscheiden, erfordert also hier wie dort persönliche Opfer, bringt aber auch Liebe und Glück – so Annika Bryns Formel. Denn schließlich liegt der Ursprung allen Übels – und der des „Monsters von Gotland“ – in mangelnder, zurückgewiesener, nicht erwiderter oder nicht gefundener Liebe, vor allem der Mutterliebe. Das klingt sozialromantisch und rückwärtsgewandt, und wird höchstens dadurch relativiert, dass Margaretas Krise denselben Ursprung hat: den Verlust ihres Mannes vor sechs Jahren und die Erkenntnis, dass sie, nachdem sie am Ende von „Tatmotiv: unbekannt“ angeschossen wurde, ebenso gut hätte tot sein können.
Wie kann man zurück gelangen, wenn man erst einmal aus der Bahn geworfen ist?
Diese Einsicht wirft sie so sehr aus der Bahn, dass sie im Prinzip zwangsbeurlaubt wird. Sie selbst formuliert das zu Beginn: „Alles dreht sich um das Gleichgewicht (…) Gleichgewicht, Erinnerung und Gefühle. Was man in die Hand gelegt bekommt, die man der Welt entgegenstreckt. Was man selbst geben darf. Ein liebevoller Blick, der nicht mehr da ist, eine Stimme, die verstummt ist und nicht mehr antwortet. Wie kann man zurück gelangen, wenn man erst einmal aus der Bahn geworfen ist? Wenn der Rhythmus und die Kette gebrochen sind? Wenn jede Wahl, die man trifft, falsch ist, weil man die Richtung verloren hat und alles Selbstverständliche sich außer Reichweite zu befinden scheint?“ Damit schließt sich der Kreis, denn Margareta ist letztlich demselben existentiellen Konflikt ausgesetzt wie die Protagonisten – die mordenden wie die nicht-mordenden.
Ende offen
Das Ende ist ambivalent. Einerseits fühlt sich Margareta nicht mehr ruhelos, hat „einen Endpunkt erreicht“, andererseits weiß sie nicht, wie oder ob es überhaupt mit Kalle und ihr weitergehen wird und „wartet darauf, dass sich irgendwo eine Tür zu ihrem Leben öffnet.“ Es sind diese gefühlvollen Charakterdarstellungen und Reflexionen, die „Rabennächte“ trotz konzeptioneller Schwäche beim Plot lesenswert machen und Annika Bryn aus der Masse der skandinavischen Krimis hervorhebt.![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Buchtipp |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Margareta Davidsson, Chefermittlerin in Stockholm, geht in die zweite Runde. Dieses Mal in Rosenbad, dem Sitz diverser schwedischer Ministerien. Hier wird Beatrice Chiquin, eine enge Mitarbeiterin der Justizministerin Karin Landberg, schwer verletzt in den Räumen der Ministerin aufgefunden. Der Tatort ist also an Brisanz kaum zu überbieten. Strukturell dagegen bewegt sich Anniky Bryn in der Tradition des klassischen "Whodunit"-Krimis, auf dessen Verrätselungsmotiv des geschlossenen Raumes die Autorin selbst mehrfach anspielt. Das Dilemma einen in Stil und Struktur antiquierten Krimi abzuliefern, kompensiert Annika Bryn aber dadurch, dass sie die Geschichten der Protagonisten Margareta, Kent und John in "Tatmotiv: unbekannt" weiterspannt. Die Charaktere, allen voran Kent, entwickeln sich, gewinnen an Schärfe und Tiefe. Schritt für Schritt mit den Protagonisten dringt man in tiefere Persönlichkeitsschichten vor, und insbesondere Kent hat mit seinen Dämonen aus der Vergangenheit zu kämpfen. Gerade weil Kent nicht eindeutig gut oder böse ist, finde ich ihn den interessantesten und spannendsten Charakter.
Allerdings kann man Annika Bryn die Fortführung der Geschichten aus "Die sechste Nacht" auch als Schwachpunkt anlasten. Denn dass John, der in dem Vorgängerkrimi zusammen mit dem Undercoveragenten Kent von einer Nazibande entführt wurde, nun wieder ins Spiel kommt, weil er natürlich die Justizministerin kennt, kann auch unter die Rubrik "an den Haaren herbeigezogen" fallen. Das gilt auch für Andreas, der der Nazibande angehörte, jetzt einsitzt und John schließlich den entscheidenden Tipp gibt. So knirscht und knackt es an einigen Stellen, weil sich nicht alles flüssig und logisch in den Krimiplot integrieren will, dabei sind Margareta und Kent durchaus interessante Charaktere mit noch mehr Potential, was für folgende Krimis hoffen lässt - mit John kann ich persönlich aufgrund seiner fiktiven Vita weniger anfangen. Dazwischen immer wieder Reflexionen zum Mord an Anna Lindh und dazu, welche Kompromisse notwendig sind, um an die Macht zu kommen, um "etwas" in der Gesellschaft zu verändern - und wie man sich selbst dabei verändert oder verändert wird.
Der Tatort bietet Annika Bryn die Gelegenheit, vielfältige Motive vor politischer Kulisse zu diskutieren. Das reicht von Fremdenfeindlichkeit - Beatrice Chiquin ist Mayaindianerin aus Guatemala - bis Homophobie, doch alles steht und fällt mit der Lösung des Problems des Mordes in einem geschlossenen, geradezu hermetisch abgeriegelten Raum lösen. Das gelingt nicht, ohne den Mörder aus dem Innern des Ministeriums zu holen, was ja nicht so schlimm wäre. Das Motiv allerdings kann je nach Geschmack sowohl unter - wohlwollend - "klassisches Krimimotiv" als auch "an den Haaren herbeigezogen" eingeordnet werden. Hier zeigt sich ganz deutlich das Problem des klassischen "Whodunit": Die Frage nach dem Wer ist wichtiger als nach dem Warum, aber wir sind schon viel zu sehr von den hervorragenden Krimiautoren Skandinaviens verwöhnt, als dass wir auf ein solches Ende nicht doch enttäuscht reagierten. Das ist schade, denn "Tatmotiv: unbekannt" fängt ambitioniert und viel versprechend an, und die Charaktere tragen. Alles in allem also eine ambivalente Fortsetzung mit Protagonisten, auf deren weitere Entwicklung ich mit Spannung warte, aber auch mit einem Krimiplot, der als zu weit hergeholt und platt aufgefasst werden kann. Damit ist "Tatmotiv: unbekannt" also kein durch und durch schlechter Krimi, löst aber als Fortsetzung zu "Die sechste Nacht" nicht alle Versprechen seines Vorgängers ein.
Vielen Dank an Alexandra Hagenguth![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Wer ist Kent? Diese Frage stellt sich am Ende der Geschichte nicht nur Margareta Davidsson, Mitglied der Fahndungsgruppe, die eine Mordserie an prominenten Anti-Rassisten und Nazi-Gegnern aufklären soll. Auch der entführte Rechtsanwalt mit Guerilla-Vergangenheit in Afrika, John Danielsson, traut Kent, dem Polizei-Spitzel, dem es schließlich gelingt, sich in das Hauptquartier der radikal-nationalistischen Gruppe, die hinter Johns Entführung und den Morden steht, einzuschleusen, nicht. Welches Spiel Kent wirklich spielt, erfährt auch der Leser erst ganz zum Schluss, und selbst dann weiß er immer noch nicht so richtig, was er von diesem Kent halten soll.
Mit Kent, dem vierundvierzigjährigen, durchtrainierten Polizisten mit zweifelhafter Vergangenheit, furchigem und verlebtem Gesicht, zerschlissenen Jeans, gefährlichen und misstrauischen Augen, der obligatorischen Zigarette im Mundwinkel und der Kalaschnikow in der Sporttasche, ist Annika Bryn die vielleicht interessanteste Figur gelungen. Kent bleibt auch für den Leser bis zum Schluss zwielichtig, obwohl dieser sowohl gegenüber der Polizei als auch der rechtsradikalen Organisation um Malmberg und dem entführten John, der seine ganz eigenen Pläne zur Flucht schmiedet, immer einen hauchdünnen Wissensvorsprung hat. Kent umgibt eine Aura der Undurchdringlichkeit, des Zweifelhaften und Verdächtigen, was in antagonistischer Spannung zu dem Verlangen steht, sich diesem mutigen Vertreter des Gesetzes, des Rechts und der Ordnung, der sich in die Höhle des Löwen begibt, anzuvertrauen. Ja, darauf zu vertrauen, dass er Malmberg und seiner rassistisch-nationalistischen Organisation rechtzeitig das Handwerk legen kann. Gleichzeitig ist es die selbstverständliche, männliche Machtpose, die ebenso verlockend wie abstoßend ist.
|
Undurchsichtig wie der Schluss - zumindest in Bezug
auf die charakterliche Integrität der Protagonisten John und Kent
- gestaltet sich zunächst auch die Jagd nach dem Mörder für
die Polizei. Innerhalb einer Woche geschehen in Stockholm vier Morde.
Alle Opfer waren, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, im Widerstand
gegen den Rechtsextremismus aktiv. Die Polizei fahndet fieberhaft nach
einem verrückten Einzelkämpfer, doch die Zeit läuft ihr
davon und der Mediendruck verstärkt sich täglich.
Und steckt hinter den Morden wirklich ein Einzelkämpfer oder nicht
doch eher eine Organisation? Und wenn es sich um eine Organisation handelt,
welche? Offensichtlich keine der bekannten. Hat sich unbemerkt von der
Polizei eine neue Organisation gegründet? Wenn ja, wer ist der
Kopf dahinter, wer die Spinne im Netz? Das Team um Chefermittler Alberg
entschließt sich, Kent als Polizei-Spitzel in die Szene einzuschleusen.
Doch nicht alle trauen ihm. Was steckt hinter Kents plötzlicher
Versetzung von Göteborg zur Stockholmer Polizei?
Zur gleichen Zeit verschwinden das Anwaltsehepaar Danielsson und dessen
dreizehnjährige Tochter Miriam spurlos. Sind sie vielleicht nur
zu einem spontanen Urlaub aufgebrochen oder ist ihnen etwas zugestoßen?
Stehen die beiden Fälle in einem Zusammenhang und was für
ein Mensch ist dieser John - eigentlich?
In ihrem Debütroman "Die sechste Nacht"
aus dem Jahr 2003 verwebt Annika Bryn, die in Stockholm als Journalistin
lebt, geschickt die Elemente eines Krimis mit denen eines Action- und
Psychothrillers. Die ganze Geschichte spielt in nur einer, überaus
hektischen Woche an so unterschiedlichen Schauplätzen wie dem belebten
Stockholm oder dem unwegsamen, menschenleeren Norrland. Annika Bryns
Familiengeschichte hat dabei unübersehbar im Hintergrund Pate gestanden
für den Plot.
Das Schiff ihres norwegischen Großvaters wurde von den Nazis bombardiert
und sank. Unter den Toten Annika Bryns Großvater. Der Vater geht
daraufhin in den Untergrund, schließt sich der norwegischen Widerstandsbewegung
an, flieht nach Schweden und lernt dort schließlich Annikas Mutter
kennen. Kein Wunder also, dass sich "Die sechste Nacht" auch
wie eine Abhandlung liest, die der Frage nachgeht, was die Gewalt mit
uns macht; wie sie unsere Identität beeinflusst, die Liebe, und
was mit uns und unseren moralischen Grundsätzen geschieht, wenn
wir plötzlich die Gelegenheit haben, unsere Folterer selbst zu
richten.
Insbesondere das Spiel mit doppelten Identitäten und die Frage, wer der Mensch, mit dem man verheiratet ist oder mit dem man zufällig zusammenarbeitet, eigentlich ist und ob man ihm vertrauen kann, bildet somit den sozusagen humanistischen Kern des Romans. Herausgekommen ist dabei ein überaus spannender Thriller mit Nervenkitzel-Faktor 10, der Lust auf mehr macht, dessen zugrunde liegende Idee aber noch besser hätte herausgearbeitet werden können, wenn Annika Bryn auf das ein oder andere ausufernde, erzählerische Element verzichtet hätte.
Vielen Dank an Alexandra Hagenguth