Leseprobe
1
Etwas lag in der Winterluft.
Er konnte es nicht genau benennen - ein wärmender Lufthauch, die
ausgefranste helle Öffnung am ansonsten gleichmäßig grauen
Himmel, oder vielleicht lag es daran, daß es platschte, statt zu
knirschen, als er in die Wasserlache trat, die den gesamten Winter über
den für ihn reservierten Parkplatz umgeben hatte.
Er stand eine Weile da und blinzelte in die morgendliche Wolkendecke,
die wie ein zusätzliches schützendes Dach über der Bank
lag. Die gleiche Stille wie immer.
Ein Stück entfernt lag der Ortskern, noch ganz verschlafen, das einzige
Lebenszeichen waren ein paar dünne Rauchfäden, die sich aus
dem einen oder anderen Schornstein kräuselten.
Er hörte das eintönige Zwitschern der Sumpfmeise und sah sie
aus ihrem Nest direkt unter dem Dachfirst lugen. Nachdem er den Wagen
abgeschlossen hatte, ging er die wenigen Meter zu der unansehnlichen Tür
des Personaleingangs, fischte sein großes Schlüsselbund heraus
und öffnete die drei Sicherheitsschlösser, eins nach dem anderen.
Im Schalterraum hing der übliche Wochenendmief; Lisbet würde
lüften, sobald sie wie gewohnt gutmütig schnatternd eintraf.
Er selbst kam immer als erster, so war die Routine.
Alles war genau wie immer.
Er wiederholte es mehrmals: Alles ist genau wie immer.
Möglicherweise sagte er es einmal zu oft.
Er ging an seine Kasse und zog die Schublade auf, nahm ein längliches,
vergoldetes Etui heraus und wog vorsichtig einen der langen Pfeile in
der Hand. Seine Spezialwaffe. Es gab nicht viele, nicht einmal unter den
Eingeweihten, die wirklich wußten, wie ein Dartpfeil auszusehen
hatte.
Seine Pfeile waren eine Spezialanfertigung; ein zwölf Zentimeter
langer Rumpf mit verhältnismäßig kurzen, buschigen Flights
und eine sieben Zentimeter lange Spitze, die seine Gegner jedes mal wieder
in Erstaunen versetzte.
Er nahm die drei Pfeile und ging um die Trennwand herum in den hinteren
Bürotrakt. Dort hing das Board. Ohne auf den Boden sehen zu müssen,
stellte er sich mit den Schuhspitzen an die dünne schwarze Linie,
die exakt 237 Zentimeter von der Dartscheibe entfernt war, und warf in
einer rhythmischen Abfolge die Pfeile. Alle drei steckten im äußeren
großen Feld der Eins. Das war sein Aufwärmtraining.
Wie immer.
Alles war, wie es sein sollte.
Er verschränkte die Finger und bog die Handinnenflächen nach
außen, bis ein leichtes Knacken zu hören war, danach schüttelte
er die Hände aus. Er zog das Schlüsselbund aus der Manteltasche,
ging zurück in den Schalterraum und öffnete den Tresor. Schwerfällig
und mit sonorem Knarren schwang die Tür auf.
Es klang wie immer.
Er trug eine Tasche mit dicken Banknotenbündeln zu seinem Platz an
der Kasse, breitete diese auf der Arbeitsplatte aus und betrachtete sie
eine Weile, wie immer.
Gleich würde Lisbet durch den Personaleingang geschwebt kommen und
augenblicklich anfangen, die neuesten Familiengeschichten auszubreiten;
danach würde Albert mit seinen überheblichen Räuspern erscheinen
und ihnen steif zunicken. Mia würde wie immer die letzte sein, dunkelhaarig,
verschlossen und stumm unter ihrem Pony hervorschielend. Danach würde
es nicht mehr lange dauern, bis Lisbets Kaffeeduft auch den letzten Rest
Wochenendmief verdrängt hatte und das Büro mit einer Atmosphäre
stiller Menschlichkeit füllte.
Danach die vereinzelt hereintröpfelnden Kunden: Bauern, die nervös
an ihren uralten Sparbüchern herumfingerten; Hausfrauen, die pedantisch
über jede noch so geringe Summe, die sie abhoben, Buch führten;
Rentner, die ihr Konto
überzogen, um sich das Futter für ihre Katzen leisten zu können.
Er hatte sich hier immer wohl gefühlt. Aber der Ort war kleiner geworden,
viele Leute waren abgewandert, die Kundenzahlen immer weiter geschrumpft.
Es ist alles wie immer, dachte er.
Noch einmal trat er hinter die Trennwand, um den Tag mit einem schnellen
Fünfhunderteins-Spiel einzuläuten. Von fünfhunderteins
bis null. Mit ein paar Treble-Zwanzigern und Bullringen würde er
den Countdown beschleunigen. Genau wie immer. Die Pfeile trafen punktgenau;
der gewöhnungsbedürftige, zittrige Flug, das besondere Kennzeichen
seiner langen Pfeile, führte sicher ans Ziel. Noch 87 Punkte, als
die Uhr piepste.
Neun Uhr dreißig.
Während er darüber nachdachte, wie er das Finish gestalten wollte,
ging er zur Eingangstür und schloß auf.
Alles war genau wie immer.
Buchtipp |
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Nehmen wir die einfache Variante, dachte er, zuerst eine einfache Fünfzehn,
danach eine einfache Zwanzig und als Krönung das einzige Bull's-Eye
dieses Morgens. Zwei. Danach zum Abschluß der Partie eine Doppel-Eins.
Null. Ganz einfach. Das schwierigste würde sein, den dritten Pfeil
exakt im kleinen schwarzen Mittelpunkt des Bull's-Eye zu plazieren. Ein
guter Start in den Tag.
Ein guter Start in einen ganz gewöhnlichen Tag.
Um der Spannung willen plazierte er die Fünfzehn ins äußere
und die Zwanzig ins innere Feld; der Pfeil steckte direkt neben dem Stahldraht
und neigte sich verräterisch zur Eins, aber er saß. Der Draht
vibrierte leicht von der Berührung. Jetzt noch das Bull's-Eye, mitten
ins Schwarze. Er konzentrierte sich, hob den Pfeil, zielte mit der langen
Spitze auf den inneren Ring und führte den Pfeil exakt in Augenhöhe
zehn Zentimeter nach hinten.
In dem Moment schlug die Tür.
Das stimmte nicht. Das war nicht richtig.
Er ließ den Pfeil sinken und ging in den Schalterraum.
Ein riesiger, bulliger Mann zielte mit einer großen Pistole auf
ihn. Wie versteinert blieb er stehen. Alles brach auseinander. Das war
falsch, völlig falsch. Nicht jetzt. Nicht ausgerechnet jetzt. Der
Boden unter seinen Füßen gab nach.
Der Mann trat an den Schalter und hielt ihm eine leere Reisetasche hin.
Er legte den Pfeil beiseite, öffnete die Klappe und nahm die Tasche
mechanisch entgegen.
"Fill it up", sagte der Mann in gebrochenem Englisch. Langsam
und methodisch packte er ein Geldbündel nach dem anderen ein. Neben
der Tasche lag der Pfeil mit der langen Spitze. Die Gedanken wirbelten
wild in seinem Kopf herum. Nur noch das Bull's-Eye, dachte er, und er
dachte an Lisbet und daran, daß es neun Uhr dreißig war, und
an die aus alter Gewohnheit aufgeschlossene Eingangstür, er dachte
an den Abschluß mit der Doppel-Eins und den anonymen braunen Briefumschlag
von höchster Stelle, an die Fäuste unter den blauen Klängen,
daran, wie weich Lena war, und an die losen Zähne unter der Zunge
und zuletzt wieder einmal an das Bull's-Eye.
Der bullige Mann senkte die Pistole und sah sich lauernd um. Er dachte
an seine Fähigkeit, in extremen Streßsituationen das Außerste
aus sich herauszuholen.
"Hurry up!" fauchte der Stier und warf nervöse Blicke aus
dem Fenster. Seine Augen mit den tiefschwarzen Pupillen waren rot gerändert.
Bull's-Eye, dachte er und griff nach dem Pfeil.
Danach stand nur noch das Schlußdoppel aus.
Danke an den Piper Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |