LeseprobeEin greller Sonnenstrahl fiel schräg durch die Bäume.
Der Schock ließ ihn erstarren. Er war nicht darauf vorbereitet. Hatte die Matratze verlassen, war langsam durch das dunkle Haus gegangen, noch schlaftrunken, war auf die Steintreppe getreten. Und von der Sonne getroffen worden.
Wie eine Nadel bohrte sich der Sonnenstrahl in seine Augen. Er schlug die Hände vors Gesicht, aber das Licht drang immer tiefer in ihn ein, bahnte sich einen Weg durch Knorpel und Knochen und erreichte die Dunkelheit der Schädelkuppe. Dort wurde alles grell und weiß. Seine Gedanken jagten in sämtliche Richtungen auseinander, wurden zu Atomen zerfetzt. Er hätte laut aufschreien mögen, aber das tat er nie, das war unter seiner Würde. Deshalb biß er die Zähne zusammen und blieb so ruhig wie möglich auf der Treppe stehen. Etwas passierte mit ihm. Seine Kopfhaut spannte sich, er spürte ein stärker werdendes Prickeln. Er zitterte und behielt die Hände vorm Gesicht. Er merkte, daß seine Augen zur Seite gezogen, daß seine Nasenlöcher geweitet und groß wie Schlüssellöcher wurden. Er wimmerte leise, wollte sich wehren, konnte die gewaltigen Kräfte aber nicht aufhalten. Langsam wurden seine Gesichtszüge ausgewischt. Am Ende blieb nur noch ein nackter Schädel, überzogen mit weißer, durchsichtiger Haut.
Er kämpfte fieberhaft, er stöhnte leise, er versuchte, sein Gesicht zu berühren, sich zu vergewissern, daß es noch vorhanden war. Seine Nase war widerlich weich. Er ließ die Hände sinken. Hatte das wenige zerstört, was er noch gehabt hatte, spürte deutlich, daß die Nase verrutschte und wie eine faule Pflaume ihre Form verlor.
Und dann war es plötzlich vorbei. Er holte vorsichtig Luft, merkte,
wie sein Gesicht sich wieder zusammenfügte. Er zwinkerte einige Male
heftig, öffnete und schloß den Mund, doch als er wieder ins
Haus gehen wollte, verspürte er einen Stich in der Brust. Wie von
den scharfen Krallen eines unsichtbaren Untiers. Er krümmte sich,
schlang die Arme um seinen Leib, um sich der Kraft zu widersetzen, die
an der Haut auf seiner Brust zog. Seine Brustwarzen verschwanden in den
Achselhöhlen. Die Haut seines nackten Oberkörpers wurde dünner,
die Adern standen wie knotige Kabel hervor, pulsierend von schwarzem Blut.
Er krümmte sich noch mehr zusammen und spürte, daß es
jetzt kam, daß er es nicht würde zurückhalten können.
Er barst wie ein Troll in der Sonne. Eingeweide und Gedärm quollen
hervor. Er versuchte, alles bei sich zu behalten, er packte die Wundränder
und preßte sie zusammen, aber seine Innereien quollen und sickerten
zwischen seinen Fingern hindurch und fielen ihm wie Schlachterabfälle
vor die Füße.
Sein Herz schlug noch, eingesperrt hinter den Rippen, verängstigte,
hämmernde Schläge. Lange verharrte er in dieser Haltung, verkrümmt
und schluchzend. Seine Bauchhöhle war leer. Er öffnete ein Auge
und blickte ängstlich an sich herunter. Er lief nicht mehr aus. Unbeholfen
sammelte er seine Innereien auf und stopfte sie achtlos in sich hinein,
während er mit der anderen Hand die Haut so hielt, daß nicht
alles sofort wieder hinausgleiten konnte. Nichts landete am richtigen
Ort, sein Bauch beulte sich an den seltsamsten Stellen aus, aber wenn
er die Wunde schließen könnte, würde niemand etwas sehen.
Er wußte, daß er nicht so beschaffen war wie andere, aber
von außen merkte man das nicht. Während er mit der linken Hand
die Haut krampfhaft festhielt, drückte er mit der rechten. Am Ende
war fast alles wieder in seinem Bauch verstaut. Nur verschmierte Blutflecken
waren noch auf der Treppe zu sehen. Er preßte die Wunde fest zusammen
und merkte, wie sie sich schloß. Er atmete ganz flach, die Wunde
sollte schließlich nicht wieder aufgehen.
Noch immer stand er stocksteif auf der Treppe. Noch immer drang der weiße
Sonnenstrahl, scharf wie ein Schwert, durch den Wald. Aber ihm ging es
wieder gut. Es war nur alles so schnell gegangen. Er hätte nicht
vom Bett aus gleich in die Sonne treten dürfen. Er hatte sich immer
schon in einem anderen Raum bewegt und die Welt durch einen dunklen Schleier
gesehen, der dem Licht und den Geräuschen draußen ihre Schärfe
nahm. Den Schleier hielt er durch tiefe Konzentration an Ort und Stelle.
Doch diesmal hatte er vorschnell gehandelt. War einfach in den neuen Tag
hineingerannt, ohne zu überlegen, wie ein Kind.
Die Strafe erschien ihm übertrieben hart. Denn ein Traum hatte ihn aus seinem Schlaf auf der fauligen Matratze auffahren, aus dem Haus stürzen und die Konsequenzen vergessen lassen. Er schloß die Augen und sah einzelne Bilder vor sich. Er sah seine Mutter am Fuß der Treppe liegen. Aus ihrem Mund wurde rotes, heißes Blut gepumpt. Dick und rund in ihrer großgeblümten Kittelschürze, kam sie ihm vor wie eine umgekippte Kanne, aus der rote Soße fließt. Er dachte an ihre Stimme. Der immer ein dunkler Flötenton gefolgt war. Langsam ging er wieder ins Haus.
DAS IST ERRKIS GESCHICHTE
So fing sie an: Um drei Uhr nachts verließ er die Anstalt. Wir reden nicht von Anstalt, Errki, und auch wenn du dieses Haus in deinem privaten Universum nennen kannst, wie du willst, mußt du doch auch an andere denken und eine andere Bezeichnung benutzen. Das nennt man Rücksichtnahme. Oder Takt, wenn du willst. Hast du davon je gehört?
Sie wußte ihre Worte wirklich wohl zu setzen, er hatte das Gefühl, daß alles aus ihr herausfloß wie Öl. Und nach den Worten kam ihr Geräusch, eine schrille Hammondorgel.
Buchtipp |
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Das Haus heißt Wegweiser, sagte er daraufhin mit säuerlichem
Lächeln. Wir hier im Wegweiser, eine große Familie. Das Telefon
klingelt, hier Haus Wegweiser, ja bitte? Kann jemand die Post für
das Haus Wegweiser holen? Genau. Das ist einfach eine Frage der Gewohnheit.
Jeder muß ein wenig Rücksicht nehmen. Ich nicht, erwiderte
er mürrisch. Ich bin nicht freiwillig hier. Ich bin ein Paragraph-5-Fall,
einer, der sich und möglicherweise andere gefährdet. Er beugte
sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: Weil ich im Dreck stecke, kannst
du auf Gehaltsstufe zweiundzwanzig herumtanzen. Die Nachtwache zitterte.
Es gab einen Zeitpunkt, an dem sie sich wehrlos fühlte. Und zwar
dieses Niemandsland zwischen Nacht und Morgen, ein graustichiger Leerraum,
wo die Vögel verstummten und wo man nie wußte, ob sie je wieder
singen würden. Wo alles möglich war, wo sie nicht wußte,
was nun kommen mochte. Sie ließ die Schultern sinken und war plötzlich
erschöpft. Brachte nicht die Kraft auf, seinen Schmerz zu sehen,
zu bedenken, wer er war. Daß er sich in ihrer Obhut befand. Sie
fand ihn nur widerlich, selbstsüchtig und häßlich. Das
weiß ich auch, fauchte sie. Aber du bist schon seit vier Monaten
hier, und soviel ich weiß, gefällt es dir ganz gut. Das sagte
sie mit hühnerschnabelspitzem Mund.
Die Orgel schlug einen schrillen Akkord an. Und er lief los. Das war wirklich
keine große Leistung. Es war eine warme Nacht, und das Fenster stand
einen fünfzehn Zentimeter breiten Spalt offen. Es war zwar mit einem
Stahlbügel befestigt, aber dieses Problem löste er, indem er
den ganzen Bügel demontierte. Dazu benutzte er seine Gürtelschnalle.
Die Schrauben glitten locker aus dem morschen Holz, das Haus war über
hundert Jahre alt. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß. Leicht wie ein
Vogel sprang er aus dem Fenster und landete auf dem Rasen. Er nahm nicht
den Weg über den Parkplatz, sondern lief in den Wald und dann weiter
zum Weiher, den sie »Brunnen« nannten. Ihm war es egal, wohin
er ging. Nur im Haus Wegweiser wollte er nicht länger bleiben.
Danke an den Piperverlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |