Im Zentrum
der Geschichten
Manchmal muss ich mich selbst ins Ohr kneifen, um mich
zu versichern, dass ich wach bin und tatsächlich meine Brötchen
mit dem Erfinden von Geschichten verdiene. Gibt es jemand, der bereit
ist, dafür Geld zu bezahlen, dass er in einer von mir geschaffenen
Welt und ihren Geschehnissen versinken darf? In einer anderen Rolle,
nämlich in der des Konsumenten von Geschichten, kommt mir das völlig
natürlich vor. Es ist eine Selbstverständlichkeit für
mich, ein Buch zu kaufen und mich darin zu vertiefen. Aber warum ist
das so?
Das Erzählen und Verfolgen von Geschichten gehört zum Wesen
des Menschen. Die Geschichten stecken in unseren Genen. Wir gliedern
die Wirklichkeit um uns herum in Erzählungen, und letzten Endes
ist jede Kommunikation eine Variante des Geschichtenerzählens.
Die Wissenschaft zeigt uns, wie der Mensch von der Jäger- und Sammlerkultur
zur Agrarkultur übergangen ist, und wie der Weg dann über
die Industrialisierung zur Informationsgesellschaft geführt hat.
Das Übermaß an Wissen und Gütern hat uns aber nicht
zufrieden gemacht, stattdessen wollen wir mittlerweile immer konkretere
Erlebnisse. Ein Element wirkt sich vor allen anderen auf das Verhalten
des Menschen aus: die Emotion. Und die Kraft von Geschichten liegt genau
darin, dass sie Emotionen hervorbringen und Erlebnisse bereiten können.
Auch in der freien Wirtschaft ist man längst darauf
gekommen, welchen Wert die von Geschichten erzeugten Gefühle haben
können. In den USA setzen Unternehmen bereits Story-Analytiker
ein, wenn sie effektivere Strategien zur Finanzbeschaffung, zum Verkauf
ihrer Produkte oder zum Anwerben von geeigneten Arbeitskräften
entwickeln wollen. Jeder ist in der Lage, Fakten aneinander zu reihen,
aber in der heutigen Informationsflut hat das keine Bedeutung mehr.
Entscheidend ist, wer die Fähigkeit besitzt, seinen Zuhörern
ein Erlebnis zu bereiten. Vor allem Firmenhistorien werden immer häufiger
in Form von Geschichten erzählt - möglichst personenbezogen,
um Identifikation zu ermöglichen. Widerstände, die überwunden
werden müssen, verleihen der Geschichte Würze und lassen Helden
reifen. Hilfreich springt hier auch der Wirtschaftsjournalismus bei,
der ebenfalls versucht, seinen Artikeln die Form von Geschichten zu
geben. Da gibt es Machtkämpfe, gestürzte Anführer, Helden,
Widerstände, plötzlichen Reichtum - und die noch viel interessantere
plötzliche Verarmung.
Ich schreibe gerade an einem neuen Buch, das heißt, ich erzähle
eine Geschichte. Wem erzähle ich sie? Einem anspruchsvollen Leser,
nämlich mir selbst. Ich muss bei mir selbst die Begeisterung für
die Geschichte wecken, sonst bringe ich die Energie nicht auf, zigtausende
Wörter in die Tastatur zu hämmern. Am besten geht es mir,
wenn mir etwas eingefallen ist, das mich selbst überrascht und
die Finger nur so über die Tasten fliegen lässt. Dann weiß
ich, dass ich die betreffende Szene auch als Leser verschlingen würde.
Und vielleicht habe ich dann sogar den Hauch einer Ahnung davon, was
es mit dem uralten Mysterium des Geschichtenerzählens auf sich
hat.
Wie meine Bücher entstehen
Die Idee
Es ist schwer zu sagen, wo die Geschichten ihren Anfang nehmen. Manchmal
kann eine kleine Meldung in der Zeitung den Funken auf die Phantasie
überspringen lassen, manchmal ist es das Schicksal eines Menschen,
das mein Interesse weckt oder auch eine faszinierende Umgebung. Die
Idee ist extrem wichtig - nicht nur im Hinblick auf die Qualität
des Endresultats, sondern auch damit das Buch überhaupt fertig
wird. Eine funktionierende Idee zwingt mich geradezu zum Schreiben.
Umgekehrt könnte ich mir nicht vorstellen, ein Buch zu Ende zu
bringen, bei dem die Begeisterung nicht den ganzen langen Prozess über
anhält. Wenn ich eine Idee habe, schaue ich sie mir zunächst
lange an. Ich überlege mir verschiedene Varianten, mit ihr umzugehen,
unterschiedliche Hauptfiguren und vor allem, ob die Idee auch tatsächlich
eine Geschichte hergibt, die es zu schreiben und zu lesen lohnt.
Die Recherche
Wenn der Kern der Geschichte klar ist, fängt die Hintergrundrecherche
für die Konstruktion an. Je nach Thema vertiefe ich mich dafür
in die verschiedensten Dinge. Bei der Recherche stoße ich unter
Umständen auf Erkenntnisse, die der Geschichte eine Schub in eine
neue, unerwartete und interessante Richtung geben. Andererseits kann
es gerade am Anfang zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wenn man durch
allzu große Materialfülle watet, denn erst wenn sich die
Geschichte entwickelt, ergeben sich konkrete Fragen, die nach einer
Antwort verlangen. Die fruchtbarste Methode, sich Informationen zu beschaffen,
ist das Gespräch mit Experten, aber die Basisarbeit mache ich selbst
mit Hilfe schriftlicher Quellen. Wenn ich ein Gesamtbild des Themenbereichs
gewonnen und die Geschichte konzipiert habe, kann ich mich auf die wesentlichen
Fragen konzentrieren. Ein Teil der Recherche besteht darin, sich an
den echten Orten des Geschehens umzusehen. Dann benutzte ich die Digi-
oder Videokamera und ein Diktiergerät. Am effektivsten und schönsten
ist es, das jeweilige Ambiente dann aufzusuchen, wenn das Gerüst
der betreffenden Szene schon geschrieben steht. Mit der Recherche und
den Nachforschungen muss man zum richtigen Zeitpunkt aufhören können,
sonst wird das Buch nie fertig. Ich neige dazu, mich bei der Materialsuche
vor meinem Archiv mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln oder in den
Tiefen einer Bibliothek zu verlieren, aber oft macht das nicht nur Spaß,
sondern ist auch nützlich - in völlig unerwarteten Quellen
findet man manchmal etwas, das die Geschichte in interessanter Weise
voran bringt.
Die erste Fassung
Wenn die Geschichte steht, ist es an der Zeit, ein Gerüst für
das Buch zu schreiben. Das Gerüst gleicht einem Inhaltsverzeichnis
der Ereignisse. Es umfasst von jeder Szene so viel Inhalt, dass ich
mir vorstellen kann, wie die Geschichte verläuft. Das Erstellen
des Gerüsts ist eine wichtige Arbeitsphase, denn dann stellt sich
heraus, wo die Schwachpunkte der Geschichte liegen, wann die Spannung
nachzulassen droht, wo es sinnvoll ist, eine Nebenhandlung einzuschalten
und wo man besser beim Hauptstrang bleibt, welcher Ort die wesentliche
Information vermittelt usw. Dann beginnt das eigentliche Schreiben.
Die Szenen wachsen von wenigen Zeilen zu dem Umfang an, der nötig
ist, um die Geschichte zu transportieren. Hauptsächlich gehe ich
chronologisch vor, aber manchmal kann ich nicht abwarten, sondern schreibe
eine faszinierende Szene vorab. Bisweilen rächt sich diese Ungeduld,
nämlich dann, wenn sich die Geschichte ändert und die ganze
Szene gar nicht mehr gebraucht wird oder sich ihr Inhalt wesentlich
ändert. Ich versuche die erste Fassung möglichst schnell zu
schreiben. In dieser Phase bleibt ein Teil der Szenen dünn, manchmal
enthalten sie nichts als Dialog. Andere Szenen wiederum schreibe ich
von Anfang an detaillierter und genauer, je nach dem, ob mir z. B. der
Ort des Geschehens bekannt ist. Die Geschichte ändert fortwährend
ihre Gestalt: manche Szenen fallen weg, andere kommen hinzu, einige
Figuren fangen an stärker zu leben als geplant und erhalten größere
Bedeutung, andere verschwinden mitunter völlig im Hintergrund.
Auch am Plot wird ständig gefeilt - unter Umständen tun sich
überraschende Lücken auf, die ich vorher nicht bemerkt habe,
oder es ergeben sich fruchtbare Wendungen, um die herum sich interessante
Elemente kristallisieren.
Die folgenden Fassungen und das fertige Manuskript
Interessant ist es, Reaktionen auf die erste Fassung zu bekommen. Obwohl
die Geschichte noch in vielerlei Hinsicht Mängel hat, kann ich
doch einschätzen, was an den Reaktionen mit der Unvollständigkeit
des Textes zu tun hat und was nicht. Am wichtigsten sind ganz spontane
Kommentare: wie man die Geschichte findet, wie sie losgeht, ob das Interesse
wach bleibt, in welchem Zustand einen die Geschichte zurückläßt,
ob die Figuren neugierig machen, ob man sie gut genug kennen lernt.
Natürlich ist es schön, Lob zu hören, aber interessanter
ist es, sich auf die problematischen Punkte zu konzentrieren. Wenn ein
Leser eine bestimmte Passage seltsam oder unglaubwürdig findet,
ein anderer dieselbe Stelle aber hervorragend, muss man sich keine Sorgen
machen. Wenn aber mehreren Lesern derselbe Aspekt negativ auffällt,
besteht auch für mich Anlass, mir die betreffende Stelle noch einmal
genau anzuschauen. Sie muss dann eventuell verdichtet oder transparenter
gemacht werden, vielleicht braucht sie auch einen neuen Blickwinkel
oder verlangt nach Kürzungen. Als besonders heikel erweist es sich
bisweilen, einen passenden Schluss zu finden. Das Ende muss der Geschichte
und den Hauptfiguren gerecht werden. Zum Scheitern verdammt wäre
der Versuch, einen Schluss zu finden, der dem Leser zusagt, denn einzig
und allein die Geschichte darf das Finale diktieren. Und was ist ein
gelungener Schluss? Einer, der überrascht und zum Nachdenken bringt.
Normalerweise vermittelt mir das Feedback ein ziemlich genaues Bild
von den schwachen und starken Punkten der Geschichte. Fast immer stimmen
die Beobachtungen der Erstleser übrigens mit meiner eigenen Sicht
der Dinge überein; es kann nämlich sein, dass ich ein bestimmtes
Problem aus Faulheit unter den Teppich gekehrt habe, und nun bringt
mich die Leserreaktion dazu, mich endlich darum zu kümmern.
In den nächsten Fassungen vertiefe ich die Geschichte, erweitere
die Schauplätze um Einzelheiten und ersetze all die #-, X- und
*-Zeichen, die ich überall dort ausgestreut habe, wo Ergänzungen
oder Präzisierungen notwendig sind. In den ersten Fassungen achte
ich fast ausschließlich auf den Inhalt der Geschichte. Erst später
nehme ich auch sprachliche Korrekturen vor. Wenn die Geschichte einen
fertigen Eindruck macht, gebe ich sie meinem Lektor. Er verbeißt
sich mit Vorliebe in sprachliche Dinge. Wenn ich das Manuskript dann
zurück bekomme und auf der ein oder anderen Seite kein einziges
Korrekturzeichen sehe, bin ich sehr besorgt. Dann befällt mich
leicht das Gefühl, es könnte nicht alles getan worden sein,
um den Text aufzupolieren. Umgekehrt bereitet es mir geradezu masochistisches
Vergnügen, wenn ich einen Seitenrand voller Korrekturen sehe.
Im Verlag wird dann der Umbruch gemacht und ausgedruckt. In dieser Phase
sehen ich den Text zum ersten Mal so, wie ihn die Leser später
auf den Buchseiten vor sich haben. Um Formulierungen oder andere Kleinigkeiten
im Text, die Geschmackssache sind, kümmere ich mich jetzt nicht
mehr - jedenfalls versuche ich die Finger davon zu lassen. Bei der endgültigen
Abgabe des Umbruchs fühle ich mich jedesmal erbärmlich. Ich
werde dann einfach das Gefühl nicht los, dass ich es noch besser
hätte machen können. Aber das wäre wahrscheinlich auch
dann noch der Fall, wenn ich jahrelang gefeilt hätte ...
Arbeitstag eines Schriftstellers
Ein regnerischer Montagmorgen. Es ist acht Uhr, und
ich sitze am Schreibtisch. Ich habe eine Geschichte in Arbeit und mache
dort weiter, wo ich am Freitag aufgehört habe. Manchmal ist das
Schreiben wie eine amtliche Tätigkeit mit festen Arbeitszeiten,
manchmal nicht. Es gibt Tage, an denen ich mich zum Schreiben fast zwingen
muss, weil es mir so viel Mühe macht. Wenn mich dann aber wieder
die Leidenschaft packt, schreibe ich mit Volldampf an meiner Geschichte,
egal ob es Sonntag oder Werktag, hellichter Vormittag oder tiefste Nacht
ist. Diese Stunden sind das Beste, was mir der Schriftstellerberuf bieten
kann.
Ich kann mich noch an die Arbeit an meinem letzten Buch erinnern. Es
war ein heißer Sommerabend, und ich lebte zeitweise nach einem
ganz eigenen Rhythmus. Mehrere Tage lang hatte ich von morgens bis abends
buchstäblich ununterbrochen geschrieben. In wenigen Wochen sollte
der Text fertig sein, aber ein Problem, das mit dem Schluss der Geschichte
zu tun hatte, war noch nicht gelöst. Um wieder klare Gedanken fassen
zu können, ging ich joggen und ließ den Schweiß laufen.
Anschließend legte ich Musik auf, setzte mich an die Tastatur
und begab mich in die Welt der Geschichte. Ich geriet in einen rauschähnlichen
Zustand, und der Text wuchs von Stunde zu Stunde.
Buchtipp |
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An einem gewöhnlichen Montagmorgen ist von Rausch weit und breit
nichts zu spüren, aber wenn man in der Geschichte vorankommen will,
muss man trotzdem etwas zustande bringen. Am schwersten sind die ersten
20000-30000 Wörter. Danach entwickelt die Geschichte allmählich
Eigendynamik. Eine Stunde lang schaffe ich es an diesem Morgen, der
Versuchung zu widerstehen, ins Internet zu gehen und einen Blick auf
die neuesten Nachrichten zu werfen. Dann mache ich doch einen kurzen
Abstecher bei Reuters und AP. Nichts Weltbewegendes.
Schließlich kommt die Arbeit doch in Gang, als ich eine stockende
Szene komplett heraus nehme und ich den Übergang zu einer Passage
finde, wo die Handlung eine neue Wendung nimmt. Zwei Stunden vergehen
im Nu. Um mir den Neuansatz zu erleichtern, breche ich an einer interessanten
Stelle ab. Ich mache einen Spaziergang und werfe unterwegs ein paar
Briefe ein.
Nach meiner Rückkehr belohne ich mich für die gute Arbeit
des Vormittags mit einem Blick auf die Internetseiten von Guardian und
New York Times. Allerdings lässt mir meine Geschichte keine Ruhe
- ein Indiz dafür, dass sie funktioniert. Darum schreibe ich lieber
weiter. Einer Nebenfigur gebe ich das Aussehen eines Mannes, den ich
am Tag zuvor im Zug gesehen habe. Allerdings muss ich das Bild aus meiner
Erinnerung etwas glätten. Ich muss den Mann gewöhnlicher machen,
als er war, damit die Figur nicht unglaubwürdig wirkt. Schreiben
bedeutet, ständig inhaltliche und formale Entscheidungen zu treffen:
was für eine Wendung baue ich in die Handlung ein, wo platziere
ich eine bestimmte Szene, wie eröffne ich sie, wodurch mache ich
die Atmosphäre konkret spürbar, welche Worte wähle ich.
Schon in einer kurzen Schreibphase muss man oder darf man tausend Entscheidungen
treffen. Das Universum der Möglichkeiten ist grenzenlos, und man
kann über die beste Variante auch zu lange nachdenken. Die Schwierigkeit
des Schreibens hat teilweise bestimmt mit der erdrückenden Menge
der zu treffenden Entscheidungen zu tun. Nachdem ich schnell zu Mittag
gegessen habe, rufe ich einen Bekannten an, der mir aufgrund seines
Berufs in einer Sache helfen kann, die für einen Handlungsaspekt
wichtig ist. Die Leute reden gern über ihre Arbeit, und für
mich sind alle Berufe interessant.
Danach gibt es kein Ausweichen mehr: ich muss mich an eine der unangenehmsten
Beschäftigungen machen, die ich kenne, und ein Stück Text
vom Anfang noch einmal neu schreiben. Ich kürze, sorge für
mehr Atmosphäre und gebe ein paar Szenen schärfere Konturen.
Ich nehme den Stadtplan von Helsinki zur Hand und suche Straßenabschnitte
heraus, durch die meine Hauptfigur in der Geschichte fährt. Die
entsprechende Szene verschiebe ich in eine gesonderte Datei; ich werde
sie in Ordnung bringen, wenn ich das nächste Mal mit Diktiergerät
in Helsinki gewesen bin.
Mittlerweile hat sich bei mir eine stattliche Kollektion von Plänen,
Broschüren und Führern aus allen möglichen europäischen
Städten angesammelt. Auch wenn man die Atmosphäre eines Ortes
nicht mit Fakten herstellen kann, helfen die realistischen Details doch
beim Schreiben und bringen allerlei Elemente in Erinnerung, die es einem
leichter machen, das Ambiente im Text zum Leben zu erwecken.
An diesem Montag spiele ich den pünktlichen Beamten und schließe
meine Datei um vier. Anschließend gehe ich eine Runde joggen und
genieße es, nur eine einzige Entscheidung treffen zu müssen:
welche Runde laufe ich heute im herbstlichen Park. Aber dann sehe ich
die Enten im Teich, und ausgerechnet da schießt mir ein überraschender
Gedanke in den Kopf: Wie wäre es, wenn die Hauptfigur eine bestimmte
Sache gar nicht erfährt, sondern ohne etwas Böses zu ahnen,
den Park betritt und... Mir ist sogleich klar, für wieviel Spannung
diese Variante sorgen wird, darum kann ich das Schreiben doch nicht
auf den nächsten Morgen verschieben, sondern kehre auf der Stelle
an den Computer zurück.
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