|
|||||||||||||||||
|
|||||||||||||||||
|
|||||||||||||||||
Leseprobe1Stina hatte wieder versucht, sich in der Dusche aufzuhängen.
Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie hatte noch an diesem Morgen
versucht, sich in der Dusche zu erhängen, aber jetzt schlurfte
sie hier durch den Kies, und das von Medikamenten gesättigte Blut
pochte in ihren Adern. Seit dem letzten Besuch hatte sie ihre üppige
Mähne abgeschnitten. Sie lebte zwar, aber das war ihr scheißegal,
jetzt, mit soviel Nozinan im Leib. Rebekka hatte gelernt, mit diesem
Schweigen umzugehen. Es gehörte zu ihren monatlichen Treffen, Treffen,
die vielleicht durch und durch sinnlos waren. Und vielleicht auch nicht.
Sie dachte, dass niemand wissen könne, welche Wirkung der Stein
unten auf dem Grund auslöste, wenn er erst den dunklen Wasserspiegel
durchschlagen hätte. Deshalb kam sie, Monat für Monat. Es
kostete sie viel, aber sie kam. Seit fast drei Jahren sah sie nun zu,
wie ihre Schwester mit dem Drachen Verstecken spielte. Stina fragte
nicht nach Harald und den Kindern. Sie fragte nach niemandem. Sie wanderte
im Flur auf und ab oder pflügte, so wie jetzt, durch den Kies im
Park. In regelmäßigen Abständen versuchte sie sich das
Leben zu nehmen. November. Die Bäume stellten sich für den
Winter tot. Schwarze Risse im Grauen.
Rebekka sagte: "Ich komme nicht so bald wieder. Vorher fahre ich zum Haus. Vielleicht verkaufe ich es. Vielleicht bleibe ich dort. Ich weiß nicht. Ganz bestimmt komme ich vor Weihnachten nicht wieder nach Oslo." Keine Reaktion, das war immer so. Rebekka war dabei, die Stimme ihrer Schwester zu vergessen. Bei den Tannen machten sie kehrt und gingen zurück zu den klobigen Gebäuden, die jetzt mehr und mehr zu Stinas Zuhause wurden. Das tat weh, aber so war es nun einmal. Die grün gestrichenen, viel zu hellen Gänge. Der verräucherte Aufenthaltsraum. Das Bett unter dem Fenster. Der Stuhl. Das Waschbecken. Die Jahreszeiten, die kamen und gingen, in einem ewigen Schwarzweiß. Das war so ungefähr das Letzte, was Stina gesagt hatte, ehe sie alle Türen hinter sich geschlossen hatte. Dass sie ihren Farbsinn verloren habe. Sie brachte Stina zur Tür. Auf dem Weg zum Parkplatz kotzte sie ein wenig. Nur ein wenig. Einen grauen Fleck auf den feuchten Asphalt. 2Es war das alte Spiel. Der gelbe Streifen. Sie wollte den gelben Streifen überqueren, wollte auf die linke Fahrspur wechseln; manchmal sehnte sie sich nach der endgültigen Frontalkollision. Ab und zu, nicht oft, aber ab und zu wuchs dieser Impuls zu einem gebieterischen Ungeheuer, das sie an den Straßenrand befahl, das sie zum Anhalten zwang. Einmal war sie die Erste an einem Unfallort gewesen. Januar, spiegelglatte, schmale Straßen in Westnorwegen. Sie hatte den Wagen erst gesehen, als sie schon fast vorüber war. Es war Nacht, klares Wetter, aber Nacht. Sie erinnerte sich daran, wie sie hyperventilierend sitzen geblieben war, ehe sie aus dem Auto steigen konnte, wie sie mit Gott gesprochen
hatte, weil sie wusste, dass die Karten, die Er jetzt ausspielte, ihr Leben verändern würden. Der Wagen, an dem sie eben vorübergefahren war, ein weißer PKW, der sich dann als Reste eines Toyota entpuppte, lag wie ein vergessenes Akkordeon vor dem frostglitzernden Hang. Das, was einst ein Motor gewesen war, dampfte, eine weiße Wolke vor dem düsteren Himmel, ein Anblick, der ihr aus irgendeinem Grund vollständig sinnlos erschien. Sie hatte mit Gott gesprochen, eine Art Gebet ohne Anfang oder Ende, während sie mit schlurfenden Schritten den glasierten Asphalt überquerte, auf das Wrack zu. Die schändliche Erleichterung, die sich einstellte, als ihr klar wurde, dass die Insassen des zerquetschten Wagens ihre oder die Tatkraft anderer nicht mehr brauchten. Es konnte sich um zwei oder drei handeln, sie konnten auch zu viert sein, aber in diesem Ball aus verdrehtem Metall, zersplittertem Glas und verbranntem Gummi gab es keine Voraussetzungen mehr für menschliches Leben. Rot. Fleisch. Der Gestank von Benzin und Dreck. Sie hatte es nicht vergessen können. Dass ein Knall wie dieser nach Blut, Benzin und Exkrementen stank. Sie passierte Drammen. Schneeregen setzte ein. Schwere feuchte Flocken, die aus der grauen Wolkenmasse fielen. Ein LKW mit gelbem Führerhaus, der ihr entgegenkam, verblich, als er vorüberdröhnte. Noch ehe sie Holmestrand erreicht hatte, waren die Tannen schwarz geworden. Sie dachte an Stina, an deren krummen Rücken, der sich über den Gang entfernte, in Richtung Treppe. Sie dachte, dass sie ihre Schwester vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte, das dachte sie nach diesen Begegnungen häufiger. Und sie dachte an das Haus, das sie erwartete. Sie hätte gern gewusst, ob Lachen und Lieder noch immer in den Wänden hingen, aber im Grunde wusste sie, dass sie nur eine leere Hülse antreffen würde, eine Art abgenagten Totenschädel, aus dem alle Gedanken sich ins Nichts verflüchtigt hatten. Der gelbe Streifen, der jetzt weiß war, sie hätte ihn fast überquert, sie zog den Wagen vorsichtig wieder nach rechts und versprach der Puppe, sich zusammenzureißen. Sie würden nicht auf diese Weise sterben. Die Puppe hing am Spiegel über dem Armaturenbrett und starrte sie aus blass gewordenen blauen Augen an. Danke an den Fischer Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |
|||||||||||||||||
©
2001 - 2016 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien Ein Portal der n:da - nordpower design agentur | |||||||||||||||||
[ Start ] | [ Autoren A-Z ] | [ Kontakt ] | [ Forum ] | [ Impressum ] | [ Sitemap ] | [ Datenschutz ] |