Leseprobe
Prolog
Zwei Sekunden. Mehr war nicht nötig, um ihn zu zerstören.
Um sein Leben in Fetzen zu reißen. Zwei jämmerliche
Sekunden.
Die Gedanken, die nachts kreuz und quer durch seinen
Kopf jagten, wollten ihn nicht loslassen. Seit Wochen
schon hielten sie ihn wach. Erst im Grenzland zwischen
Nacht und Morgengrauen glitt er endlich in einen befreienden
Schlaf und wurde für einige Stunden verschont.
Um erneut in dieser Hölle aufzuwachen. Dem einsamen,
verborgenen Inferno, das hinter seiner beherrschten Fassade
tobte. Es mit jemandem zu teilen war unmöglich.
Während dieser zwei Sekunden war er kopfüber in den
schwärzesten Abgrund gestürzt. Er hatte nicht geahnt,
dass die Wahrheit so unbarmherzig sein konnte.
Erst nach einiger Zeit begriff er, was er zu tun hatte. Er
würde dazu gezwungen sein, die Sache allein anzugehen.
Es gab keinen Weg zurück, keine Hintertür, aus der er
herausschlüpfen konnte, um vor der Welt und sich selbst
so zu tun, als sei nichts passiert.
Alles hatte damit begonnen, dass er etwas erfahren hatte
und nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Er trug
sein Wissen eine Zeit lang mit sich herum. Es juckte, kratzte und störte ihn wie eine Wunde, die immer wieder
aufbricht und nicht heilen will.
Vielleicht hätte er es nach und nach vergessen. Sich
selbst eingeredet, es sei das Beste, die Sache ruhen zu
lassen.
Aber die Neugier hatte ihn dazu getrieben, weiterzuforschen,
mehr in Erfahrung zu bringen. Auch wenn das
wehtat.
Der schicksalhafte Tag begann, auch wenn er das nicht
von Anfang an begriff. Vielleicht hatte sein Körper die
Gefahr instinktiv gespürt. Vielleicht auch nicht.
Er war allein zu Hause. Große Teile der Nacht hatte er
schlaflos verbracht, mit denselben Gedanken beschäftigt
wie während der letzten Wochen. Es bedurfte einer Kraftanstrengung,
aus dem Bett aufzustehen, als er hörte, wie
draußen vor dem Fenster der Tag erwachte.
Appetit konnte er nicht aufbringen, er konnte sich gerade
zu einer Tasse Tee zwingen. Er saß nur am Küchentisch
und starrte auf das graue Wetter und die Hochhäuser
gegenüber.
Buchtipp |
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Die Frustration trieb ihn dann schließlich aus
der Wohnung.
Inzwischen war es schon später Vormittag, aber im November
wurde es nie richtig hell. Der Schnee lag schmutzig
braun auf dem Bürgersteig, und die Menschen eilten
durch den Matsch, ohne einander in die Augen zu blicken.
Die Kälte war scharf und feucht und erlaubte kein lässiges
Flanieren.
Er beschloss, wieder zu dieser Stelle zu fahren, ohne dass
er einen wirklichen Grund hatte. Er folgte einfach einer
Eingebung. Wenn er gewusst hätte, was passieren würde,
hätte er es nicht getan. Aber es war wie vorausbestimmt.
Als er die Straße erreichte, schloss der Mann gerade die
Tür ab. Ungesehen folgte er ihm zur Bushaltestelle. Der
Bus kam gleich darauf. Er war voll besetzt, und ihre Schultern
streiften einander fast, als sie sich in den Mittelgang
drängten.
Vor dem Warenhaus NK stieg der Mann aus und bahnte
sich zielstrebig einen Weg durch die Horden aus Samstagsflaneuren.
Mit schnellen Schritten lief er in Richtung
Innenstadt weiter. Er trug einen eleganten Wollmantel,
den Schal lässig über die Schultern geworfen, und rauchte
dabei eine Zigarette. Plötzlich verschwand er in einer
Querstraße.
Diesen Weg hatte der Mann noch nie genommen. Sein
Puls wurde schneller. Er hielt sich zurück, blieb in gebührender
Entfernung, wechselte sicherheitshalber die Straßenseite.
Aber trotzdem hatte er alles im Blick.
Plötzlich verlor er den anderen aus den Augen. Rasch überquerte er die Straße. Dort gab es eine Metalltür, die so
unansehnlich war, dass sie mit der heruntergekommenen
Fassade verschmolz.
Verstohlen sah er sich in beiden Richtungen
um. Hier musste der Mann verschwunden sein. Er
beschloss, ihm zu folgen. Dass die Konsequenzen tödlich
sein würden, wusste er nicht, als er auf die Klinke drückte.
Drinnen war es fast ganz dunkel, eine trübe rötliche
Neonröhre an der Decke gab notdürftiges Licht. Die Wände
waren schwarz gestrichen. Eine steile Treppe, deren Stufen
mit winzigen Glühbirnen besetzt waren, führte ins
Kellergeschoss. Kein Laut war zu hören. Zögernd ging er
nach unten und landete in einem langen, öden Gang. Der
Gang war schwach beleuchtet, und er konnte im Dunkeln
weiter vorn Menschen ahnen, die sich bewegten.
Es war helllichter Tag, aber hier war davon nichts zu
bemerken. Die Welt draußen existierte nicht. An diesem
Ort galten andere Gesetze.
Endlose Gänge verschlangen sich zu einem komplizierten
Labyrinthsystem. Schattengestalten huschten hin
und her, und er konnte das Gesicht des Mannes, den
er verfolgte, nicht deutlich sehen. Er gab sich alle Mühe,
nicht aufzunehmen, was er hier sah, sich dagegen zu wehren.
Alle diese Eindrücke verlangten nach seiner Aufmerksamkeit,
wollten unter seine Haut.
Er verlor die Orientierung und landete vor einer Tür.
Der verdammten Tür. Wenn er sie nur nicht aufgemacht
hätte.
Zwei Sekunden brauchte er, um zu registrieren, was
geschah. Um zu verstehen, was er sah.
Dieser Anblick sollte sein Leben zerstören.
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