"Die Pinocchio-Papiere"
von Tor Åge Bringsværd
Kriminalroman oder ökologisches Manifest?
Bereits der Umschlag von Tor Åge Bringsvaerds
"Die Pinocchio-Papiere" lässt den Leser erahnen, dass
es sich hierbei um ein außergewöhnliches Buch handeln muss:
Ganz dem Titel gemäß, sieht man eine Pinocchio Figur, die
allerdings aus einem Reagenzglas herauslugt. Um ein altes, vergilbtes
Buch - oder ist es der Holzstamm, aus dem Pinocchio geschaffen wurde?
- rankt sich eine Pflanze, aus der wiederum selbst ein Reagenzglas zu
wachsen scheint. Auf der Innenseite des Umschlags liest man dann, dass
dies die Geschichte darüber sei, was später geschah. Nur mit
anderen Augen gesehen. Dreht man das Buch nun um, lassen sich auf der
Rückseite Fingerabdrücke erkennen. Handelt es sich also doch
um einen Kriminalroman, wie schon der Titel andeutet? Nun, um gleich
den vielleicht wichtigsten und fast schon leitmotivisch auftauchenden
Satz aus den "Pinocchio-Papieren" zu zitieren: "Wir wissen
es nicht."
Buchtipp |
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Aber der Reihe nach. "Die Pinocchio-Papiere", die bereits
1978 erschienen, ist die Geschichte des norwegischen Folkloristen Jonas
Rafn, der sich in Ungarn auf die Suche nach seinem verschwundenen Kollegen
und Freund Varga macht. Er findet Vargas letztes Manuskript zum Märchen
vom "Blumenpeter", lernt die geheimnisvollen Lilli und Maja
kennen, macht sich mit Major Szluka auf die Suche nach Varga, wird am
Ende selbst in die Sache verstrickt und kommt schließlich am Ende
bei dem Versuch um, dem skrupellosen Wissenschaftler Dr. Farkas das
Handwerk zu legen. In einem apokalyptischen Ende überlebt nur Lilli,
und die ganze Sache scheint für Major Szluka so verworren, dass
er damit rechnet, dass dieser Fall wohl bald zu den Akten gelegt werden
wird. Nähme man nur diese Rahmenhandlung, so könnte man meinen,
man hätte es mit einem meisterhaften Kriminalroman, beinahe in
James Bond Manier, zu tun. Wäre da nicht eben jenes Pinocchio Papier,
Vargas letzte Aufzeichnungen vor seinem Tod, um derentwillen er schließlich
ermordet wird.
Vargas Manuskript, ein Sammelsurium an eklektisch zusammengestellten
Materialien, die von persönlichen Notizen über Briefe bis
hin zur vermeintlich von Pinocchio selbst verfassten Biografie reichen,
ist als Abbild der kriminalistischen Rahmenhandlung zu sehen. Denn was
die Pinocchio Papiere postulieren, ist die Existenz zweier Welten, einer
sichtbaren und eben einer unsichtbaren, beseelten Welt, einer Welt,
die der Mensch zwar als Natur in Form von beispielsweise Bäumen
und Pflanzen wahrnimmt, von deren Innenleben er aber nichts weiß.
Ganz im Gegenteil hat der Mensch "die Natur immer als Feind betrachtet.
Als etwas, das es zu überwinden gilt" , was ihn schließlich
ganz wörtlich "entwurzelt" hat. Der Blumenpeter und Pinocchio
werden deshalb in Vargas Manuskript paradigmatisch als Verwurzelte dargestellt,
"[d]enn Pinocchio war natürlich vom Walde erschaffen - hervorgetreten
aus dem Pflanzenreich, wie alle Blumenpeter' vor ihm." So
kommt es am Ende, dass Major Szluka, der von der Existenz der zweiten
Welt nichts weiß und der Jonas als Freund verloren hat, weil er
ihm seine Berichte von ihr nicht glaubte, von alledem nichts versteht.
Er sieht nur die große, alles verschlingende Feuersbrunst in Dr.
Farkas Klink, versteht aber nichts von dem Kampf, der in einer anderen
Welt stattgefunden hat.
So wie diese Feuersbrunst, so scheint auch Bringsværds Roman alles
verschlingend. Er wiedersetzt sich jeglicher finalen Interpretation,
weshalb auch die ökologische nur unvollständig bleibt. Dem
Leser, der von alldem noch nicht abgeschreckt ist und der bei dem leitmotivischen
"Wir wissen es nicht" nicht stehen bleiben will, bleibt keine
andere Wahl zur Vervollständigung des Textes zumindest einige von
Bringsværd mehr als zahlreichen Quellen nachzulesen. Dies macht
zwar noch keinen Kriminalroman, spannend ist es aber allemal.
Tor Åge Bringsværd: "Die Pinocchio-Papiere". Aus
dem Norwegischen von Roman Steinlin. 192 S., dreamis,
Zürich 2004. ISBN: 3-905473-02-X
Vielen Dank an Gideon Perret aus Herxheim
© Januar 2005 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien |
"Die Pinocchio-Papiere"
von Tor Åge Bringsværd
Vielschichtiger Märchen-Krimi über Mythologie, Forschung
und Ethik
"Die Pinocchio-Papiere" spielen 1978 und
im Mittelpunkt stehen der norwegische Folklorist Jonas Rafn, sein verschwundener,
ungarischer Kollege Varga sowie Pinocchio und seine Seelenverwandten,
alle künstlich geschaffenen Wesen, aber auch Bäume und Pflanzen.
Jonas Rafn erreicht ein dramatischer, rätselhafter, telegrafischer
Notruf seines Kollegen und Freundes Varga: "Hilf mir. Der Drache
ist zurück." Als Jonas in Budapest eintrifft, findet er Vargas
Wohnung verwüstet, von dem Wissenschaftler fehlt jede Spur. Zusammen
mit Lilli, die er zufällig beim Befragen der Nachbarn Vargas kennen
lernt und in die sich Jonas blindlings Hals über Kopf verliebt,
macht er sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Freund. Zunächst
geschieht dies im Einvernehmen mit Major Szluka, doch schon bald gerät
Jonas selbst unter Verdacht.
Jonas gelangt schließlich in den Besitz von Vargas Manuskript,
in dem dieser beschreibt, wie er an Pinocchios Selbstbiografie geraten
ist. Die Darstellung Pinocchios unterscheidet sich drastisch von der
Geschichte, die uns Carlo Collodi erzählt. In Vargas Manuskript,
ein fragmentarischer Dramatext, ist Pinocchio ein Misshandelter auf
der Suche nach Wahrheit, Freiheit und der eigenen Identität. Dabei
wird er jedoch ständig von der guten Fee, die sich im Verlauf der
Lebensgeschichte Pinocchios alles andere als gut erweist, behindert.
Sie ist mehr der strafende denn der rettende Engel.
Pinocchios Identität liegt schließlich in der Einheit mit
der Natur. Erst als Pinocchio eine Metamorphose durchläuft und
buchstäblich zum Baum wird, findet er seinen Seelenfrieden und
Antwort auf alle Fragen. Eine parallele Entwicklung macht Jonas durch,
dem "alles Holz" zur Flucht aus Major Szlukas Gefängnis
verhilft und der sich am Ende mit der Natur metamorphosisch vereint.
Das Schauspiel, auf das Varga sich in seinem Manuskript bezieht und
von dem er vehement behauptet, dass Pinocchio selbst es geschrieben
habe, ist eingeflochten in weitere Textformen: Dokumente, Briefe, Notizen.
Dabei handelt es sich in der Hauptsache um moderne, auf Fakten beruhende,
naturwissenschaftliche Theorien, die behaupten, dass auch Pflanzen hören,
sehen und fühlen können. Dies sind durchaus umstrittene, jedoch
empirische Befunde, die wir mit den herkömmlichen Naturgesetzen
nicht erklären können. Das "Übernatürliche",
das "Abenteuerliche" und "Nicht-reale" erhält
Einzug in den Text, wie gleichzeitig Mythen, Legenden und narrative
Texte zitiert werden, die immer nur von dem einen handeln, von künstlichem
Leben, künstlicher Intelligenz, von von Menschenhand geschaffenen
Wesen, mechanischen Menschen (Robotern), synthetischen Menschen und
biodynamischen Maschinen (Androiden).
Die Quellen, auf die sich Varga/Bringsværd bezieht, lesen sich
wie eine kultur- und geisteswissenschaftliche Enzyklopädie der
letzten 2000 Jahre dazu. Auf dieser enzyklopädischen Reise begegnen
wir Ilias, Albertus Magnus, E.T.A. Hoffmann, H.C. Andersen, Karel Capek,
den Erzählungen des Talmud und den Mysterien der Kabbala, Mary
Shelley, H.G. Wells, Goethe, begegnen wir dem Golem des Rabbi Löw
ebenso wie Mary Shelleys Frankenstein, Androiden, Capeks Robotern, Homunculi
und Goethes Faust.
Zusammen mit den naturwissenschaftlichen Abhandlungen wird so das Übernatürliche,
das Unerklärliche, konstituierend für den Text, sowohl für
die Roman-externe Wirklichkeit, die gewisse Befunde, die ein Fühlen
von Pflanzen nahe legen, nicht erklären kann, als auch für
die text-interne Wirklichkeit, in der Jonas glaubt in einem brennenden
Hotelzimmer zu erwachen, das sich schließlich aber als völlig
unversehrt erweist. Die Grenze zwischen dem "Natürlichen"
und dem Übernatürlichen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit
verschwindet zusehends im Romanverlauf.
Als weiteres narratives -unerklärliches, übernatürliches
- Element findet sich Vargas Blick in Form von Gedankentraktaten im
Text eingeflochten.
Varga wurde von Dr. Farkas, einem zynischen, verrückt erscheinendem
Wissenschaftler, entführt. Dr. Farkas, dem auch Jonas lange vertraut,
benutzt Varga als Versuchsperson für seine makaberen biologischen
Experimente und operiert Vargas Gehirn heraus, das er dann eine Symbiose
mit einer Schlingpflanze eingehen lässt. Vargas Gedankenwelt nach
der Entführung erzählt von der Sprache hinter der - logischen,
menschlichen - Sprache.
Am Ende werden alle Handlungsstränge zusammengeführt
und wir werden Zeuge eines archaischen Kampfes auf Leben und Tod, zwischen
Gut und Böse. Lilli, die Jonas von Dr. Farkas ebenfalls entführt
glaubt, erweist sich als Lilith, als der Nachtdämon, der Vampir,
als Adams erste Frau, die Schlange - Vargas Manuskript bietet hier verschiedene
Interpretationsmöglichkeiten unter den Mythen und Legenden zum
von Menschenhand geschaffenen Lebewesen.
Dr. Farkas ist der Drache, der Menschenopfer fordert. Lilith will Jonas
zum neuen Drachen machen, der zunächst die finale Szene verblendet,
verständnis- und ahnungslos betritt, um Lilli zu befreien, bis
er schließlich versteht, wen er da eigentlich geliebt hat. Derweil
wird Dr. Farkas vom zum Baum verwandelten Pinocchio getötet. Schließlich
öffnet sich die Erde und verschluckt - wie in dem ungarischen Märchen
"Der Blumenpeter", ein weiteres Zitat der "Pinocchio-Papiere"
- Jonas. Als die Polizei mit Major Szluka an der Spitze am Ort des Geschehens
eintritt, finden sie nur noch Dr. Farkas mit geteiltem Schädel
und eine verwirrte, halbnackte, aber lebende Lilith.
Doch was ist eigentlich geschehen? Wir wissen es nicht. Jonas, Pinocchio
und Varga werden von der Stille verschluckt. Jonas geht dabei sehenden
Auges, ohne Angst und ohne Worte in den Tod. Alles danach ist Schweigen.
In starken Todesbildern konfrontiert uns Bringsværd in "Die
Pinocchio-Papiere" damit mit unseren eigenen Todesängsten.
Was kommt nach dem Tod? Was verbirgt sich hinter dem Nichts, hinter
der Leerstelle, die der Tod darstellt? Eine Antwort darauf geben die
"Pinocchio-Papiere" schlussgültig nicht, doch lassen
Vargas Gedanken und Jonas' angstfreier Übertritt in den Tod positive
Assoziationen zu.
Wichtiger aber als die Antwort auf die Frage, was uns nach dem Tod erwartet,
ist die Darstellung, was passiert, wenn wir dieses Nichts, diese schwarze
Leere überwinden wollen. Dann nämlich begegnen wir - wie Rabbi
Löw, wie Faust, wie Frankenstein - dem Drachen in uns selbst. Es
ist gefährlich, diese Grenze zu Lebzeiten überschreiten zu
wollen. Genauso gefährlich ist es aber, das Unerklärliche
und Fantastische unserer Existenz rationalisieren und damit kontrollierbar
machen zu wollen. Auch bedarf die Kunst der kreativen Sprache, die zwischen
dem Realen und dem Imaginären wechseln kann, um nicht zu sterben.
Das entspricht einer ästhetischen Grundhaltung, die das Erlebnis
im Hier und Jetzt zum eigentlichen Ziel im Leben macht.
Der reine - nicht dominierende - Krimiplot konzentriert sich auf die
Suche von Major Szluka nach Varga, seinem Mörder (denn der Kopf
wird später von der Donau an Land gespült) sowie schließlich
auch auf die Suche nach Jonas, der selbst unter Verdacht geraten ist.
Der "klassische", konventionelle Krimileser wird hier also
massiv enttäuscht.
Wer sich aber auf dieses fantastische, sich den gängigen Lesegewohnheiten
widerstrebende, literarische Wissenschaftsabenteuer einlässt, den
erwartet ein poetischer Dokumentarroman, ein außergewöhnlicher
Märchen-Krimi über Mythologie, Forschung und Ethik. Wer jedoch
mit Märchen, Mythen, Legenden und sperrigen Texten nichts anzufangen
weiß und wer konventionelle Krimis bevorzugt, der lasse lieber
die Finger von den Pinocchio-Papieren. Er würde nicht glücklich
damit.
Quelle:
Kaj
Berseth Nilsen. "Hver avreise er en gjenkomst". Bringsværds
Pinocchiopapirene og fantastikkens språk. Norsk Litterær Årbok
1985.
Tor Åge Bringsværd: "Die Pinocchio-Papiere". Aus
dem Norwegischen von Roman Steinlin. 192 S., dreamis,
Zürich 2004. ISBN: 3-905473-02-X
Vielen Dank an Alexandra Hagenguth/
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