Leseprobe
Die Nacht auf den 9. August 1996 wurde eine der längsten
in Kurt Wallanders Leben.
Als er in der Morgendämmerung aus dem Haus in der Lilla Norregata
wankte, war es ihm noch nicht gelungen, sich von dem Gefühl zu
befreien, mitten in einem unbegreiflichen Alptraum gefangen zu sein.
Doch alles, was er in dieser Nacht hatte sehen müssen, war Wirklichkeit.
Und diese Wirklichkeit war entsetzlich. In seinem Polizistenleben war
er häufig Zeuge von Szenen geworden, die von einem blutigen und
brutalen Drama sprachen. Aber es war ihm noch nie so nahegegangen wie
diesmal. Als er Svedbergs Wohnungstür aufbrach, wußte er
nicht, was ihn erwartete. Aber er hatte schon von dem Augenblick an,
in dem er das Brecheisen ansetzte, das Schlimmste befürchtet. Und
er hatte recht behalten.
Sie waren lautlos in den Flur getreten, als seien sie auf dem Weg in
ein feindliches Territorium. Martinsson war dicht hinter ihm. Im Flur
brannte kein Licht, doch das Licht aus dem Wohnungsinneren schlug ihnen
entgegen. Einen kurzen Moment verharrten sie. Wallander hörte Martinsson
hinter sich stoßweise atmen. Dann näherten sie sich dem Wohnzimmer.
In der Türöffnung fuhr Wallander so heftig zurück, daß
er gegen Martinsson prallte. Dieser beugte sich vor, um sehen zu können,
was Wallander gesehen hatte.
Hinterher sollte Wallander sich an Martinssons Reaktion als an ein Wimmern
erinnern. Er würde es nie vergessen. Martinsson, der wimmerte wie
ein Kind angesichts des Unfaßbaren, das er vor sich auf dem Fußboden
sah.
Da lag Svedberg. Ein Bein hing über der zerbrochenen
Lehne eines umgestürzten Stuhls. Der Körper war eigentümlich
verdreht, als habe Svedberg kein Rückgrat.
Wallander stand vollkommen unbeweglich in der Türöffnung,
von Entsetzen gelähmt. In dem Augenblick gab es keine Unklarheit.
Der da lag, war Svedberg. Und er war tot. Der Mann, mit dem er so viele
Jahre hindurch zusammengearbeitet hatte, lag tot in verdrehter Stellung
am Fußboden. Svedberg existierte nicht mehr. Er würde nie
mehr an seinem üblichen Platz sitzen, an einer der Längsseiten
des Tischs in einem der Sitzungsräume, und sich mit dem Bleistiftende
die Glatze kratzen.
Svedberg hatte keine Glatze mehr. Sein Kopf war zur Hälfte weggesprengt.
Ein Stück von ihm entfernt lag eine doppelläufige Schrotflinte.
Das Blut war bis an die weiße Wand ein paar Meter hinter dem umgestürzten
Stuhl gespritzt.
Wallander stand mit pochendem Herzen und nahm das Bild in sich auf.
Er würde es immer in sich tragen. Svedberg tot, sein zerschossener
Kopf, ein umgestürzter Stuhl, ein Gewehr auf einem roten Teppich
mit eingewebten hellblauen Rändern.
Ein wirrer Gedanke blitzte in Wallanders Kopf auf. Von jetzt an würde
Svedberg nie wieder von seiner panischen Angst vor Wespen gequält
werden.
"Was ist hier passiert?" fragte Martinsson. Seine Stimme klang
brüchig. Wallander merkte, daß er den Tränen nahe war.
Er selbst war von einer solchen Reaktion noch weit entfernt. Er konnte
nicht in Tränen ausbrechen über etwas, was er nicht verstand.
Und er verstand nicht, was er vor sich sah. Svedberg tot? Das war absurd.
Svedberg war Kriminalbeamter in den Vierzigern, der morgen wieder auf
seinem üblichen Platz sein würde, wenn sie sich zu einer ihrer
Besprechungen trafen. Svedberg mit seiner Glatze, seiner Angst vor Wespen
und seiner Gewohnheit, jeden Freitagabend in aller Einsamkeit im Keller
des Polizeipräsidiums in der Sauna zu sitzen.
Es konnte ganz einfach nicht Svedberg sein, der da lag. Es war ein anderer
Mann, der ihm glich.
Instinktiv warf Wallander einen Blick auf seine Uhr. Es war neun Minuten
nach zwei. Vielleicht blieben sie ein paar Minuten in der Türöffnung
stehen. Dann kehrten sie in den Flur zurück. Wallander knipste
eine Wandleuchte an. Er merkte, daß Martinsson zitterte. Er fragte
sich, wie er selbst wohl aussah.
" Wir brauchen die volle Besetzung", sagte er.
Danke an den Zsolnay Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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